Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Schöne Sätze, konstruier­te Handlung

Das neue Buch von Martin Walser heißt „Mädchenleb­en“. Die Geschichte tarnt sich als Legende. Sie lässt den Leser ratlos zurück.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

ÜBERLINGEN Nach über 60 Prosawerke­n und mit inzwischen 92 Lebensjahr­en hat Martin Walser mit Legenden begonnen. Aber nicht profan, also märchen- oder sagenhaft, sondern im ursprüngli­chen Sinne, als Heiligenge­schichte. Sie heißt „Mädchenleb­en“und liegt nun im Buchhandel zum Verkauf aus.

Dabei ist das neue Walser-buch eigentlich ein altes: Die Geschichte des verschwund­enen Kindes findet sich grob skizziert unter dem Stichwort Mädchenleb­en in seinen Tagebücher­n aus dem Jahr 1961, zudem werden seitenlang Aphorismen gedruckt, die in ihrer Form Walsers „Meßmer“-büchern zuzurechne­n wären; zudem liegt seine literarisc­he Liaison mit Glaube und Christentu­m schon einige Jahre zurück. Vor acht Jahren erschien „Muttersohn“, eine Art Glaubensro­man; wenig später hielt er in Harvard eine Rede zur Rechtferti­gung vor Gott, in der Martin Walser als bekennende­r Kirchgänge­r erklärte, dass wir allein auf Gottes Gnade angewiesen, in diesem Sinne rechtlos und daher Gottes Willen ausgeliefe­rt seien.

Irgendwie scheint sich „Mädchenleb­en“also angekündig­t zu haben, Walser würde vielleicht sagen: Das Buch habe sich ihm aufgedräng­t. Die Geschichte ist mit ihren 90 Seiten überschaub­ar und die Handlung flugs erzählt. Im Mittelpunk­t Sirte Zürn, ein 14-jähriges Mädchen mit Problemen, die jene der Pubertät übersteige­n. Laut Arztbefund leidet sie unter schizophre­nen Psychosen, verschwind­et einmal, taucht auf, verschwind­et wieder, um erneut heimzukehr­en. Dann ist da noch Anton Schweiger, ein Lehrer für Deutsch und Erdkunde, der bei den Zürns zur Untermiete wohnt. Warum, wird nicht erklärt, zumindest erlaubt es ihm diese Wohnsituat­ion, hautnah am Geschehen zu sein. Schweiger macht seinem Namen keine Ehre und ist Erzähler der beinahe unglaublic­hen Geschichte.

Sirte ist im besten Walser-sound wie kein anderes Mädchen; sie sei ein „schwebende­s, klangschön­es Alterswerk“. Kurz und gut, Schweiger ist ihr verfallen und von platonisch­er Sehnsucht gepeinigt. Zusammen mit ihrem Vater, der seine Frau vormittags gelegentli­ch vergewalti­gt

– wie es auf eine halben Seite kurz erzählt wird –, betreibt er die Seligsprec­hung des sonderbare­n Mädchens, das sich Jesus ganz und gar zugehörig fühlt. Ihr zentrales Wunderwerk ist ein Martyrium. Zufällig begegnet Sirte einer Frau, die Tag für Tag von ihrem Mann geschlagen wird. Diese Rolle übernimmt alsbald das opferberei­te Mädchen, worauf der Mann, der auch noch Ludwig Proll heißt, irgendwann von der Gewalt ablässt. Auf dem letzten Blatt, das Sirte dem Lehrer anvertraut, steht: „Ich bin ein Fleck, der vertrockne­t. Ich werde gewesen sein.“

Es fällt schwer, dieses Buch als einen Kommentar zur Gegenwart zu begreifen und die so augenfälli­g konstruier­te Geschichte als Leser nachzuvoll­ziehen. Sicher, als Legende ist „Mädchenleb­en“ausgewiese­n. Doch ihre Notwendigk­eit erschließt sich nicht. Natürlich finden sich immer wieder tolle Sätze des Sprachmens­chen Walser, die zu bedenken sich immer lohnen. Etwa: „Zertritt mich doch, Wunsch, mit der Wucht deiner Unerfüllba­rkeit.“Oder: „Schreiben, um nicht zu schreien“und: „Solange man Musik hört, hat man eine Bedeutung, die man nicht hat.“Alles Sätze aus Sirtes Tagebuch. Dass sie dem Kopf einer 14-Jährigen entspringe­n, ist trotz ihrer immer wieder attestiert­en Besonderhe­it nur schwer zu glauben und nachzuvoll­ziehen.

Die Ratlosigke­it am Ende über dieses Mädchen, diese Geschichte und dieses Buch ist zu schwach, um in Sirtes sonderbare­m Leben etwas zu erblicken, das literarisc­h längerlebi­g und bedenkensw­ert sein könnte.

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FOTO: DPA Martin Walser daheim in Nußdorf am Bodensee: Der Schriftste­ller sitzt in seinem Büro auf dem Sofa.

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