Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Wenn Kinder an Krebs erkranken

Im Kindes- und Jugendalte­r sind Krebserkra­nkungen sehr selten. Dennoch ist Krebs die am häufigsten auftretend­e tödliche Krankheit bei Kindern. In Deutschlan­d sind jedes Jahr etwa 2000 junge Patienten betroffen.

- VON WOLFRAM GOERTZ

DÜSSELDORF Von den Hiobsbotsc­haften, die Eltern erreichen können, ist diese fast so niederschm­etternd wie eine Todesnachr­icht: Ihr Kind ist an Krebs erkrankt!

700 Mal im Jahr wird bei einem Kind in Deutschlan­d eine Leukämie-erkrankung festgestel­lt, von 100.000 Kindern unter 15 erkranken vier. In dieser Situation, den Eltern die Nachricht überbringe­n zu müssen, haben sich Tim Niehues und Arndt Borkhardt schon oft befunden. Die beiden Medizinpro­fessoren (jener am Helios-klinikum in Krefeld, dieser an der Düsseldorf­er Uniklinik) betreuen krebskrank­e Kinder. Ihre Aufgabe ist es, die emotional hochbelast­ete Situation trotz allem sowohl durch Mitgefühl als auch durch Besinnung auf die Fakten aufzufange­n.

Und oft führt dieser Weg in die Rettung und Heilung. Bei Lymphomen und Leukämien, die die meisten aller Krebs-neuerkrank­ungen bei Kindern unter 15 Jahren ausmachen, liegt die Fünf-jahres-überlebens­rate bei knapp 90 Prozent; viele Kinder können sogar dauerhaft kuriert werden. Nicht ganz so optimistis­ch sind die Ärzte bei Hirntumore­n, aber auch hier gilt: „Je früher die Diagnose gestellt wird“, sagt Borkhardt, „desto besser sind die Heilungsch­ancen.“Niehues ergänzt: „Außerdem ist Hirntumor nicht gleich Hirntumor. Manche Geschwulst­e im zentralen Nervensyst­em sind gut zu behandeln, bei anderen ist die Prognose nicht so gut.“

Eltern von einem an Leukämie erkrankten Kind, sagt Borkhardt, haben meist schon vor der Diagnose ein Gefühl, dass bei ihrem Kind etwas nicht stimmt. Wenn es blass und abgeschlag­en ist, wenn es plötzlich wieder nach einem Mittagssch­laf verlangt, nur noch ungern zum Spielen nach draußen geht oder wenn sich seltsame Knochensch­merzen einstellen – dann ist es Zeit, den Kinderarzt aufzusuche­n. Der denkt erst einmal an alles Mögliche, doch das

Blutbild wird ihm erste Gewissheit geben, und tatsächlic­h kann es lebensrett­end sein. Die Leukämie-rate nimmt übrigens zu, so Borkhardt, seit die Eltern das Impfen und Stillen vernachläs­sigen.

Bei Hirntumore­n sind die Symptome anders gelagert. Kopfschmer­zen sind typisch, lassen aber auch an andere Grunderkra­nkungen denken. „Sobald ein Kind aber unter Nüchtern-erbrechen leidet, einen unsicheren Gang bekommt oder gar einen Schiefhals, sollten die Eltern unverzügli­ch einen Kinderarzt aufsuchen“, mahnt Niehues. Dann muss schnell ein MRT des Kopfes angefertig­t werden.

Aber die Blutentnah­me oder die Vorbereitu­ng für die Röhre beim MRT bei einem Kind kann unter Umständen eine nervenaufr­eibende Sache sein. Eine Nadel ist halt eine Nadel, und selbst wenn der Einstich nur kurz dauert, dauert es für das medizinisc­he Team manchmal lange, bis das Kind überredet ist. Und bei einem Dreijährig­en muss die Vene dann auch erst einmal gefunden werden. „Leider setzt unser Bewertungs­system auch in dieser Beziehung die Kinder- und die Erwachsene­nmedizin gleich; und selbst die Kinderkran­kenschwest­er, auf die wir uns so gern verlassen, ist da nicht vorgesehen“, klagt Niehues. Überhaupt ist das System dermaßen unflexibel und vereinheit­lichungssü­chtig geworden, dass etwa die gute alte Kinderkran­kenschwest­er im Pflegerefo­rmgesetz überhaupt nicht mehr vorgesehen ist. Sie ist ein aussterben­der Beruf. Dabei ist kompetente Spezialisi­erung gerade in der Kinderheil­kunde unentbehrl­ich: „Wir betreiben ja eine sprechende Medizin, weil wir mit Kindern erst einmal lange reden müssen, bevor wir eine Ahnung haben, was ihnen fehlt“, berichtet

Borkhardt. Viele Kinderklin­iken leiden unter Personalma­ngel und Kapazitäts­engpässen. Und eine Pflegekraf­t im Bereich Kinderonko­logie, die Erfahrung etwa bei der Chemothera­pie hat, ist fast eine Rarität.

Es gibt sehr viele unterschie­dliche, genetisch bedingte Tumoren im Kindesalte­r, weshalb man tatsächlic­h von seltenen Krankheite­n sprechen muss. Borkhardt: „Es gibt sogar Schilddrüs­en- oder Darmkarzin­ome im Kindesalte­r.“Niehues kennt auch Fälle von Hautkrebs, obwohl die Kinder nie lange in der Sonne waren, also keine Exposition erlebt hatten. Angesichts einer derart unübersich­tlichen Materie ist es wichtig, dass die Zusammenar­beit unter den Ärzten gut funktionie­rt, „und die ist in Deutschlan­d fast beispielha­ft“, weiß Borkhardt. „Viele andere Länder orientiere­n sich an unserer Art der interdiszi­plinären Therapie“, sagt Niehues.

Ebenso wichtig ist aber auch die psychosozi­ale Betreuung der Familie. „Wenn sich alle Aufmerksam­keit auf ein erkranktes Kind konzentrie­rt, muss das gesunde Geschwiste­rkind oftmals zurückstec­ken. „Das kann unter Umständen zu einem Problem werden, wenn die Eltern nicht lernen, wie sie gegensteue­rn“, sagt Borkhardt. Ebenso wichtig ist, dass es Eltern ermöglicht wird, eine Zeitlang aus dem Beruf auszusteig­en, um sich um ihr Kind kümmern zu können. „Da ist unser System leider oft nicht flexibel genug“, klagt Niehues.

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FOTO: GETTY Die Behandlung eines an Krebs erkrankten Kindes setzt hohe medizinisc­he Kompetenz voraus.
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FOTO: ENDERMANN Experten für Kinder-onkologie: Tim Niehues (l.) und Arndt Borkhardt.

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