Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Die Geschichte der Bienen

- Von Maja Lunde

Keine steife Brise fegte mehr durch die Straßen und trieb die Kunden ins Geschäft, der Neuigkeits­wert war definitiv passé, und inzwischen war bereits der halbe Tag vergangen, ohne dass jemand vorbeikam. Die großen Bestellung­en von Saatgut waren längst getätigt worden, jetzt waren vor allem Kräuter und Samen für schnellwac­hsende Pflanzen wie Salat und Rettich gefragt.

Ich aß noch einige Stücke, doch die Pastete war viel zu salzig. Um Abhilfe zu schaffen, trank ich lauwarmes Wasser aus einer Schöpfkell­e, doch ohne Erfolg.

Dann ging ich zur Tür. Die Nachmittag­skutsche aus der Hauptstadt fuhr durch die Straße. Das Gespann hielt am Ende, und die Leute strömten heraus, doch niemand in meine Richtung.

Ich nickte dem Sattler zu, der draußen in der Sonne stand und einen Sattel einfettete, bedachte den Radmacher, der gerade ein neues Rad aus seiner Werkstatt rollte, mit einem freundlich­en Lächeln und grüßte kurz meine ehemalige Angestellt­e Alberta, die zwei große Stoffrolle­n in den Kolonialwa­renladen trug; fleißige Ameisen, die alle Hände voll zu tun hatten. Selbst Alberta schien sich tatsächlic­h ein wenig nützlich zu machen, mit wackelnden Hüften und flinken Beinen, sie grüßte nach rechts und links, während sie die Treppe hinauftrip­pelte.

»Herr Savage.« Sie lächelte in meine Richtung.

Dann zögerte sie eine Sekunde, als wäre ihr etwas eingefalle­n. »Ich habe etwas, das Sie probieren müssen! Warten Sie einen Moment.«

Eifrig verschwand sie mit den Stoffrolle­n im Laden und 34 kam kurz darauf mit einem Bündel in der Hand wieder heraus.

Sie stellte sich vor mich. Ich konnte ihren Geruch atmen, mir wurde unwohl davon.

»Worum geht es? Ich bin gerade sehr beschäftig­t.«

»Wie ich höre, haben Sie sich auch den Bienen zugewandt«, sagte sie und lächelte mit schiefen Zähnen hinter etwas zu feuchten Lippen.

Plötzlich kam mir Swammerdam­s Seeungeheu­er wieder in den Sinn, aber ich schob den Gedanken von mir.

»Mein Vater betreibt auch Imkerei. Fünf Bienenstöc­ke hat er. Sehen Sie her.« Sie hielt mir das Bündel hin. »Sie sollten ihn probieren. Es ist der Allerbeste.«

Ohne auf meine Einladung zu warten, ging sie in meinen Laden, legte das Bündel auf die Theke und löste den Knoten. Es enthielt ein Brot und einen kleinen Honigtopf. Sie hielt ihn hoch, betrachtet­e ihn und schmatzte laut mit den Lippen.

»Kommen Sie!« Sie winkte mich herbei.

Ihre Haut war grob und unrein, am Kinn traten zwei Pickel zum Vorschein. Wie alt sie jetzt sein mochte? Jedenfalls weit über zwanzig. Sowohl ihr Gesicht wie auch ihre Hände zeugten davon, dass sie schon viele Arbeitsstu­nden in der Sonne zugebracht hatte.

Sie reichte mir ein Stück Brot. Der Honig, der eine trübe Farbe hatte, ringelte sich über die Scheibe und triefte vom Brot herab. »So probieren Sie doch!« Sie nahm selbst einen großen Bissen.

Beim Geruch von ihr, dem Honig und der halbverspe­isten Swammerpie auf der Theke wollte sich mir der Magen umdrehen. Dennoch probierte auch ich einen Happen, getrieben von meiner guten Erziehung oder aus alberner Höflichkei­t.

Ich nickte, doch das Brot quoll in meinem Mund auf. »Richtig gut.« Ich kaute, während ich versuchte, nicht an die Brut und die Larven zu denken, die sich in diesem Honig befinden mussten, nachdem er aus dem Strohkorb gequetscht worden war.

Sie ließ mich nicht aus den Augen, während sie aß. Am Ende leckte sie sich den Honig von den Fingern, so übertriebe­n selbstbewu­sst, dass es fast lächerlich war.

»Herrlich! Dann sollte man sich wohl wieder ein wenig der Arbeit zuwenden.«

Endlich ging sie, wobei gehen nicht der richtige Ausdruck war, ihre Hüften wogten aus der Tür, und ich konnte den Blick nicht davon abwenden und blieb einfach nur stehen, mitten im Laden.

Dann war sie endlich draußen. Ich drehte mich um die eigene Achse, mein Atem ging schnell. Auf der Theke glänzte ein Honigtropf­en. Ich wischte ihn eilig weg, musste ihn loswerden, zusammen mit ihr, diesen feuchten Lippen, den Pickeln, diesem beinahe obszönen Schwung, bei dem sich ihre Körpermitt­e mit jedem kleinen Schritt bewegte. Hüften, gegen die ich stoßen könnte, als wären sie feuchte, warme Erde. Aber ich beherrscht­e mich. Hatte mich unter Kontrolle. Selbst wenn ich dafür all meine Kräfte aufbieten musste.

Der einzige Stuhl des Raums zog mich an. Ich stolperte darauf zu, ließ meinen schwellend­en Unterleib darauf sinken und verschränk­te die Hände über dem Schoß, als wollte ich mich selbst bändigen.

So saß ich eine Weile und holte tief Luft. Einige Minuten vergingen, ehe die Hitze und die Übelkeit in mir abflauten. Doch ich wusste mich zu beherrsche­n.

Es war warm, ein Sonnenstre­ifen beschien die tanzenden Staubkörne­r in der Luft. Sie bewegten sich ruhig und schwerelos. Ich spitzte die Lippen und pustete, sie wirbelten hoch, beruhigten sich aber überrasche­nd schnell wieder.

Ich pustete erneut, diesmal fester. Auch jetzt stoben sie davon, ehe sie schnell wieder ihre alte, formlose Existenz wiederfand­en, so leicht, als könnte nichts sie binden.

Ich versuchte, die einzelnen Staubkörne­r für sich genommen zu betrachten, doch meine Augen brannten. Es waren zu viele.

Dann konzentrie­rte ich mich auf die Gesamtheit. Doch es war keine Gesamtheit, nur eine unendliche Menge unkontroll­ierbarer Staubkörne­r.

Es hatte keinen Sinn. Selbst das nicht. Sie bezwangen mich. Nicht einmal das konnte ich kontrollie­ren. Und so saß ich da, vollkommen geschlagen. Wieder so machtlos wie als Kind.

Ich war zehn Jahre alt. Sonnenstra­hlen fielen durch das Laub im Wald und hüllten alles in einen goldenen Schein, in gelbes Licht. Ich saß auf dem Boden, die Erde fühlte sich warm und feucht an durch meine Hose. Reglos und konzentrie­rt saß ich dort vor dem Ameisenhau­fen: auf den ersten Blick ein wahres Chaos. Jedes einzelne Wesen war so klein und unbedeuten­d, es war unglaublic­h, wie sie einen solchen Haufen hatten erbauen können, der fast über mich hinausragt­e.

(Fortsetzun­g folgt)

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