Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Die Geschichte der Bienen
Keine steife Brise fegte mehr durch die Straßen und trieb die Kunden ins Geschäft, der Neuigkeitswert war definitiv passé, und inzwischen war bereits der halbe Tag vergangen, ohne dass jemand vorbeikam. Die großen Bestellungen von Saatgut waren längst getätigt worden, jetzt waren vor allem Kräuter und Samen für schnellwachsende Pflanzen wie Salat und Rettich gefragt.
Ich aß noch einige Stücke, doch die Pastete war viel zu salzig. Um Abhilfe zu schaffen, trank ich lauwarmes Wasser aus einer Schöpfkelle, doch ohne Erfolg.
Dann ging ich zur Tür. Die Nachmittagskutsche aus der Hauptstadt fuhr durch die Straße. Das Gespann hielt am Ende, und die Leute strömten heraus, doch niemand in meine Richtung.
Ich nickte dem Sattler zu, der draußen in der Sonne stand und einen Sattel einfettete, bedachte den Radmacher, der gerade ein neues Rad aus seiner Werkstatt rollte, mit einem freundlichen Lächeln und grüßte kurz meine ehemalige Angestellte Alberta, die zwei große Stoffrollen in den Kolonialwarenladen trug; fleißige Ameisen, die alle Hände voll zu tun hatten. Selbst Alberta schien sich tatsächlich ein wenig nützlich zu machen, mit wackelnden Hüften und flinken Beinen, sie grüßte nach rechts und links, während sie die Treppe hinauftrippelte.
»Herr Savage.« Sie lächelte in meine Richtung.
Dann zögerte sie eine Sekunde, als wäre ihr etwas eingefallen. »Ich habe etwas, das Sie probieren müssen! Warten Sie einen Moment.«
Eifrig verschwand sie mit den Stoffrollen im Laden und 34 kam kurz darauf mit einem Bündel in der Hand wieder heraus.
Sie stellte sich vor mich. Ich konnte ihren Geruch atmen, mir wurde unwohl davon.
»Worum geht es? Ich bin gerade sehr beschäftigt.«
»Wie ich höre, haben Sie sich auch den Bienen zugewandt«, sagte sie und lächelte mit schiefen Zähnen hinter etwas zu feuchten Lippen.
Plötzlich kam mir Swammerdams Seeungeheuer wieder in den Sinn, aber ich schob den Gedanken von mir.
»Mein Vater betreibt auch Imkerei. Fünf Bienenstöcke hat er. Sehen Sie her.« Sie hielt mir das Bündel hin. »Sie sollten ihn probieren. Es ist der Allerbeste.«
Ohne auf meine Einladung zu warten, ging sie in meinen Laden, legte das Bündel auf die Theke und löste den Knoten. Es enthielt ein Brot und einen kleinen Honigtopf. Sie hielt ihn hoch, betrachtete ihn und schmatzte laut mit den Lippen.
»Kommen Sie!« Sie winkte mich herbei.
Ihre Haut war grob und unrein, am Kinn traten zwei Pickel zum Vorschein. Wie alt sie jetzt sein mochte? Jedenfalls weit über zwanzig. Sowohl ihr Gesicht wie auch ihre Hände zeugten davon, dass sie schon viele Arbeitsstunden in der Sonne zugebracht hatte.
Sie reichte mir ein Stück Brot. Der Honig, der eine trübe Farbe hatte, ringelte sich über die Scheibe und triefte vom Brot herab. »So probieren Sie doch!« Sie nahm selbst einen großen Bissen.
Beim Geruch von ihr, dem Honig und der halbverspeisten Swammerpie auf der Theke wollte sich mir der Magen umdrehen. Dennoch probierte auch ich einen Happen, getrieben von meiner guten Erziehung oder aus alberner Höflichkeit.
Ich nickte, doch das Brot quoll in meinem Mund auf. »Richtig gut.« Ich kaute, während ich versuchte, nicht an die Brut und die Larven zu denken, die sich in diesem Honig befinden mussten, nachdem er aus dem Strohkorb gequetscht worden war.
Sie ließ mich nicht aus den Augen, während sie aß. Am Ende leckte sie sich den Honig von den Fingern, so übertrieben selbstbewusst, dass es fast lächerlich war.
»Herrlich! Dann sollte man sich wohl wieder ein wenig der Arbeit zuwenden.«
Endlich ging sie, wobei gehen nicht der richtige Ausdruck war, ihre Hüften wogten aus der Tür, und ich konnte den Blick nicht davon abwenden und blieb einfach nur stehen, mitten im Laden.
Dann war sie endlich draußen. Ich drehte mich um die eigene Achse, mein Atem ging schnell. Auf der Theke glänzte ein Honigtropfen. Ich wischte ihn eilig weg, musste ihn loswerden, zusammen mit ihr, diesen feuchten Lippen, den Pickeln, diesem beinahe obszönen Schwung, bei dem sich ihre Körpermitte mit jedem kleinen Schritt bewegte. Hüften, gegen die ich stoßen könnte, als wären sie feuchte, warme Erde. Aber ich beherrschte mich. Hatte mich unter Kontrolle. Selbst wenn ich dafür all meine Kräfte aufbieten musste.
Der einzige Stuhl des Raums zog mich an. Ich stolperte darauf zu, ließ meinen schwellenden Unterleib darauf sinken und verschränkte die Hände über dem Schoß, als wollte ich mich selbst bändigen.
So saß ich eine Weile und holte tief Luft. Einige Minuten vergingen, ehe die Hitze und die Übelkeit in mir abflauten. Doch ich wusste mich zu beherrschen.
Es war warm, ein Sonnenstreifen beschien die tanzenden Staubkörner in der Luft. Sie bewegten sich ruhig und schwerelos. Ich spitzte die Lippen und pustete, sie wirbelten hoch, beruhigten sich aber überraschend schnell wieder.
Ich pustete erneut, diesmal fester. Auch jetzt stoben sie davon, ehe sie schnell wieder ihre alte, formlose Existenz wiederfanden, so leicht, als könnte nichts sie binden.
Ich versuchte, die einzelnen Staubkörner für sich genommen zu betrachten, doch meine Augen brannten. Es waren zu viele.
Dann konzentrierte ich mich auf die Gesamtheit. Doch es war keine Gesamtheit, nur eine unendliche Menge unkontrollierbarer Staubkörner.
Es hatte keinen Sinn. Selbst das nicht. Sie bezwangen mich. Nicht einmal das konnte ich kontrollieren. Und so saß ich da, vollkommen geschlagen. Wieder so machtlos wie als Kind.
Ich war zehn Jahre alt. Sonnenstrahlen fielen durch das Laub im Wald und hüllten alles in einen goldenen Schein, in gelbes Licht. Ich saß auf dem Boden, die Erde fühlte sich warm und feucht an durch meine Hose. Reglos und konzentriert saß ich dort vor dem Ameisenhaufen: auf den ersten Blick ein wahres Chaos. Jedes einzelne Wesen war so klein und unbedeutend, es war unglaublich, wie sie einen solchen Haufen hatten erbauen können, der fast über mich hinausragte.
(Fortsetzung folgt)