Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Wertet die Kinder endlich auf!
ANALYSE Zum Tag der Kinderrechte werden erneut Forderungen laut, den Schutz des Kindeswohls in die Verfassung aufzunehmen. Doch wirklich nutzen würde den Kindern, wenn der Staat ihren Peinigern mit härteren Strafen droht.
Es ist zwei Generationen her, seit die Gewerkschaften die Forderung durchsetzten: „Samstags gehört Vati mir“. Es ist eine Generation her, seit Herbert Grönemeyer dröhnend mahnte: „Kinder an die Macht!“Und wie geht es den Kindern heute? Wie wachsen die 13,6 Millionen Kinder und Jugendlichen auf, von denen die Zukunft abhängt?
Das Bild ist ambivalent. Immer noch sind nach Daten des Statistischen Bundesamtes 2,4 Millionen von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht. Immerhin sechs Prozent weniger als im Vorjahr. Immer noch sind 50.400 so sehr durch Gewalt und Vernachlässigung betroffen, dass die Jugendämter einschreiten mussten. Leider in zehn Prozent mehr Fällen als im Vorjahr.
Doch es gibt auch positive Entwicklungen. Der Anteil der Väter, die die Elternzeit nutzen, um sich um die Kinder zu kümmern, ist seit der Einführung des Elterngeldes von drei auf fast 40 Prozent gestiegen. Allerdings dominiert hier immer noch die Mutter: Während Männer im Schnitt vier Monate aus dem Berufsins Familienleben wechseln, sind es bei den Frauen im Schnitt 14 Monate.
Überraschendes hatte auch die jüngste Shell-jugendstudie zutage gefördert. Danach halten 90 Prozent aller 14- bis 25-Jährigen ein „gutes Familienleben“für erstrebenswert, und 54 Prozent wollen das herkömmliche Ein-versorger-modell bevorzugen, wenn sie selbst mal ein zweijähriges Kind haben: Papa arbeitet, und Mama ist ganz für den Nachwuchs da.
Aktuell sind jedoch so viele Familien mit ihren Kindern überfordert wie nie zuvor seit Einführung dieser Statistik im Jahr 2012. In 24.900 Fällen drohte unmittelbar, so die amtliche Formulierung, „erhebliche Schädigungen des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohles eines Kindes“oder war bereits eingetreten. 7800 Kinder holte das Jugendamt deswegen aus ihren Familien, um sie vorübergehend zu schützen. Bei mehr als der Hälfte der Kindeswohlgefährdungen ging es um Vernachlässigung, bei 31 Prozent lagen Anzeichen für psychische Misshandlungen vor, in 26 Prozent der Fälle gab es Hinweise auf körperliche Misshandlungen, bei fünf Prozent sogar auf sexuelle Gewalt.
Vor diesem Hintergrund platzt dem pensionierten Polizeidirektor Rainer Becker regelmäßig der Kragen, wenn er von Verhandlungen über die Strafgesetzgebung aus dem Justizministerium kommt. Der Vorsitzende des 16.000 Mitglieder zählenden Vereins Kinderhilfe moniert, dass die Vergewaltigung eines Erwachsenen immer als Verbrechen geahndet wird, die eines Kindes jedoch nur als Missbrauch läuft. Er kann und will nicht nachvollziehen, dass Einbruchsdiebstahl nun ebenfalls als Verbrechen verfolgt wird, weil dies ein „Eingriff in die Intimsphäre der Menschen“sei, der Eingriff in die Intimsphäre von Kindern aber weiterhin nur ein Vergehen sein kann.
Becker sind Unterhaltungen aus Pädophilen-netzwerken zugetragen worden, in denen Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) dafür gefeiert werde, die Initiative der Innenminister zu massiven Strafverschärfungen bei sexueller Gewalt gegen Kinder bislang ausgebremst zu haben. „Mir wäre Lob von dieser Seite peinlich, und ich würde mir überlegen, was ich falsch mache“, lautet Beckers Kommentar.
Zum Internationalen Tag der Kinderrechte hat sich auch die Justizministerin zu Wort gemeldet und erneut die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz verlangt. Seit drei Jahrzehnten werde darüber in Deutschland schon diskutiert, nun werde sie noch vor Jahresende einen Gesetzentwurf vorlegen. „Das sind wir unseren Kindern schon lange schuldig“, sagte die Ministerin der „Augsburger Allgemeinen“. Grünen-familienpolitikerin Ekin Deligöz unterstützt das vehement. „Kinder sind keine kleinen Erwachsenen, deshalb müssen ihre eigenständigen Rechte auch klar in unser Grundgesetz aufgenommen werden“, unterstreicht Deligöz.
Tatsächlich hat eine Bund-länder-kommission bereits konkrete Vorschläge vorgelegt. Drei Varianten sind in der engeren Wahl. Danach soll der Staat in der Verfassung verpflichtet werden, das Kindeswohl „angemessen“oder „wesentlich“oder „vorrangig“zu berücksichtigen. Die Grünen schlagen das Wort „maßgeblich“vor. Auch für die Kinderhilfe steht die Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz an erster Stelle der Prioritätenliste jener Dinge, die 30 Jahre nach Inkrafttreten der Un-kinderrechtskonvention dringend zu erledigen bleiben.
Es ist unklar, ob solche Spezialvorgaben die Verfassung nicht in Wirklichkeit verwässern. Intensiv sind die Behörden durch Artikel 1 jetzt schon darauf verpflichtet, die unantastbare Würde jedes Menschen zu achten und zu schützen. Das schließt natürlich das Kindeswohl ein. Sobald die Kinder in ihrer Würde angetastet werden, müssen staatliche Stellen einschreiten. Wenn sie künftig in der Verfassung lesen, dass sie das Kindeswohl „angemessen“oder „wesentlich“oder „vorrangig“berücksichtigen sollen, ist ihr Ermessen automatisch größer geworden, vielleicht auch nicht einzuschreiten.
So ist es schon mit anderen Staatszielbestimmungen passiert. Die Situation vor Einführung des Schutzes der „natürlichen Lebensgrundlagen“ins Grundgesetz unterscheidet sich von der heute dadurch, dass die Klimaziele nicht mehr erreicht werden. Alles Mögliche in der Verfassung zu verankern, bringt also nichts, wofür sich zu kämpfen lohnt.
Mehr bringt es, bei den Gesetzen und Vorgaben konkret zu werden. Der Verein Kinderhilfe kennt die Fälle, in denen Kindern Gewalt angetan wird und sie darunter lebenslang leiden: wenn Zähne ausgeschlagen, sie verbrannt, verbrüht oder verätzt werden und das nicht einmal als Körperverletzung gilt, sondern nur als „Misshandlung“. Dann dürfte jedem klar sein, wie Kinder endlich wirklich aufgewertet werden. Dafür braucht es keine Verfassungsänderung. Man muss es nur wollen und tun.
Spezialvorgaben in der Verfassung könnten den Schutz der Kinder in Wahrheit verwässern