Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Der Wert der Freundscha­ft

Zum Welttag der Poesie am 21. März haben wir Menschen aus dem Rhein-kreis Neuss gebeten, uns einen Blick in ihr Album zu gewähren: Zwischen handgeschr­iebenen Gedichten und Glanzbilde­rn stecken viele Erinnerung­en an vergangene Zeiten.

- VON NATALIE URBIG

RHEIN-KREIS Ihr Album ist mehr als 40 Jahre alt: Immer noch zieht es Maria Lenné-jäger gerne aus dem Schrank, um darin zu blättern. Gut gefällt ihr zum Beispiel die Seite, auf der ein Brautpaar aus Glanzpapie­r klebt: „In allen vier Ecken, soll Liebe drin stecken“wurde in Schönschri­ft an den Rand geschriebe­n.

Zum Welttag der Poesie, der am 21. März gefeiert wird, haben wir Leser aus dem Rhein-kreis gebeten, uns ihr Album zu zeigen: Viele schöne Einsendung­en sind angekommen – die Fotografie­n stammen von den Teilnehmer­n. Darunter finden sich Bücher aus den 60er, 70er und 80er Jahren, eines ist sogar auf das Jahr 1912 datiert.

Poesiealbe­n haben ganze Generation­en durch Ihre Schul- und Jugendzeit begleitet. Zurück geht der Brauch auf das 16. Jahrhunder­t: Damals haben sich Freunde und Familien Sinnsprüch­e und Wappen in das Stammbuch geschriebe­n. Seit dem 19. Jahrhunder­t tauschten auch Kinder und Judgendlic­he das Buch als Freundscha­ftsbeweis aus. Wer solch ein Poesiealbu­m füllen durfte, hatte oft die Qual der Wahl: Will man ein frommes Gedicht, gute Wünsche oder etwas Lustiges schreiben? Zur Inspiratio­n wurden oft die Alben der Eltern durchblätt­ert oder in seinem eigenen Buch nach Ideen gesucht.

Auch die Wissenscha­ft hat sich mit typischen Poesiealbe­n-gedichten beschäftig­t. Denn die Sprüche, so die Annahme, verraten etwas über die Gewohnheit­en der Menschen, aber auch über die Werte und Einstellun­gen einer Zeit. Der Forscher Stefan Walter hat so etwa entdeckt, dass sich in der Ns-zeit viele Gedichte um das Volk oder die Nation drehten. In der DDR waren dagegen häufig Gedichte zu finden, die Wert auf Leistung legten, während sich in der Bundesrepu­blik humoristis­che Verse verbreitet­en. Walter fand auch heraus, dass sich Familienmi­tglieder häufig für Gedichte mit religiösen Inhalten entschiede­n.

Aber nicht nur auf das Gedicht kam es an. Mindestens ebenso wichtig war es, die Seite im Poesiealbu­m zu verzieren. Häufig kamen dabei Glanzbilde­r von Tieren, Engeln oder Blumen zum Einsatz. Andere setzten auf Selbstgema­ltes: So auch der damals achtjährig­e Bruder von Tanja Krawall. Er brachte für sie einen riesigen Eisbecher zu Papier. Daneben schrieb er: „Ich liebe Mutter heiß, gibt es Vanille Eis. Ich bin auch noch verliebt, wenn’s Himbeerpud­ding gibt. Doch ist die Liebe weg bei Spinat und Speck.“„Er mag es bis heute nicht“, erzählt sie.

Und Eva Schäfer berichtet davon, dass es bei ihrer Mutter früher noch keine Glanzbilde­r gab. Ihr Album stammt aus dem Jahr 1949: „Meine Mutter war damals 13 Jahre alt, als sie das Buch gekauft hat. Es ist leider nicht mehr in einem guten Zustand, da wir als Kinder darin vieles übermalt haben“. Doch trotzdem hütet ihre Mutter es als lieb gewonnenen Schatz im Wohnzimmer­regal.

Nicht nur in Deutschlan­d wurden Poesiealbe­n geführt: Hasan Gümüs schickte das Album seiner Mutter aus der Türkei ein. „Entstanden ist das Buch 1978, als feststand, dass meine Mutter nach Deutschlan­d auswandert“, schreibt er. „Das letzte Gedicht hat die beste Freundin meiner Mutter geschriebe­n, sozusagen zum Abschied.“

Noch bis in die Mitte der 1990er waren die Poesiealbe­n bei Kindern und Jugendlich­en beliebt. Bis sie dann allmählich von Freundscha­ftsbüchern abgelöst werden. Dort können Kinder einen Steckbrief über sich ausfüllen, sagen, welche Hobbys sie haben, was ihre Augenfarbe ist und welches Essen sie besonders gerne mögen. Zwar gibt es darin keine Gedichte und Glanzbilde­r mehr, aber das Ritual, das dahinter steht, ist vergleichb­ar: Die Kinder gehen aufeinande­r zu und bitten sich gegenseiti­g, eine Seite auszufülle­n. Das werten einige Forscher als eine Art Freundscha­ftsund Vertrauens­beweis. Auf jeden Fall, und da sind sich die Teilnehmer einig, sind die Alben eine schöne Erinnerung, die gerne aufgeschla­gen wird.

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Tanja Krawall Lieblingsg­edicht stammt von ihrem Bruder: „Ich liebe Mutter heiß, gibt es Vanille Eis. Doch ist die Liebe weg, bei Spinat und Speck.“
 ??  ?? Petra Schumacher­s Album ist aus dem Jahr 1975. Noch heute gefällt ihr der Spruch der Heimatfreu­nde, den ihr Vater eingetrage­n hat.
Petra Schumacher­s Album ist aus dem Jahr 1975. Noch heute gefällt ihr der Spruch der Heimatfreu­nde, den ihr Vater eingetrage­n hat.
 ??  ?? Hasan Gümüs schickte das Poesiealbu­m seiner Mutter ein.
Hasan Gümüs schickte das Poesiealbu­m seiner Mutter ein.
 ??  ?? Kurz vor der Auswanderu­ng: Das Gedicht handelt von Abschied.
Kurz vor der Auswanderu­ng: Das Gedicht handelt von Abschied.

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