Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Eine Jahrhundertkrise
INFO Herausforderungen für die Menschheit
ANALYSE Bundeskanzlerin Angela Merkel bezeichnete die Corona-krise als die größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg. In Bezug auf die Folgen für die deutsche Wirtschaft und Gesellschaft hat sie damit recht.
Für Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihren Finanzminister Olaf Scholz (SPD) besteht kein Zweifel. „Seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt“, sagte Merkel bei ihrer ersten und bislang einzigen direkten Tv-ansprache. Und Vizekanzler Scholz sprach im Bundestag bei der Einbringung eines 156 Milliarden Euro schweren Nachtragshaushalts von einer „Krise, die in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie dagewesen ist“. Jenseits des Atlantiks verlangt der republikanische Kongressabgeordnete Rick Mccormick vergleichbare Anstrengungen gegen das Virus wie gegen die Feinde der USA im Zweiten Weltkrieg. Doch haben diese Politiker recht? Ging es seit 1945 nicht mehr als nur einmal um die Existenz der Welt, wie wir sie kennen?
Die großen Krisen seit dem Zweiten Weltkrieg lassen sich leicht greifen. Im Koreakrieg 1950 bis 1953 wollte General Douglas Macarthur Atomwaffen gegen China einsetzen. In der Kuba-krise von 1962 stand die Welt kurz vor einem atomaren Schlagabtausch zwischen den USA und der Sowjetunion. Und in der jüngeren Vergangenheit drohten die beiden Atomunfälle von Tschernobyl (1986) und Fukushima (2011) die Welt nuklear zu verseuchen. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 war längere Zeit unklar, ob die islamistischen Terroristen nicht auch über Massenvernichtungswaffen verfügten. Und schließlich ließ die Finanzkrise von 2008 und 2009 ganze Volkswirtschaften zusammenbrechen.
Der bedeutende Historiker Heinrich August Winkler, der in einer vierbändigen Ausgabe die „Geschichte des Westens“bis in die aktuelle Gegenwart (der vierte Band behandelt die Zeit ab 1989) minutiös beschrieb, gibt der Kanzlerin recht. „Es wird im Zuge dieser Krise zu einer der größten materiellen Herausforderungen der deutschen Nachkriegsgeschichte kommen.“Dabei sieht Winkler die Schwierigkeiten nicht nur im medizinischen Bereich, sondern genauso bei der Frage nach der Solidarität innerhalb einer Gesellschaft. Der Historiker erwartet gravierende Auswirkungen der Corona-krise auf die Gesellschaft. „Die Geldsummen, um die es geht, dürften mit denen der deutschen Einheit vergleichbar sein. Es wird eine Umverteilung großen Stils notwendig sein, um die wirtschaftlichen Folgen der Corona-krise zu mildern.“
Folgt man den Szenarien einiger Wirtschaftsinstitute, dürfte Winkler nicht falsch liegen. Viele Unternehmen und Selbstständige stehen vor dem Nichts, Millionen gehen in Kurzarbeit oder werden gar ihre Stelle verlieren. „Zu vergleichen ist das nur mit dem Lastenausgleich zugunsten der Vertriebenen und Ausgebombten nach dem Zweiten Weltkrieg und den Transfers im Zuge der deutschen Einheit“, meint der Historiker. Und er nennt auch diejenigen, die Solidarität üben müssen. „Es muss zu steuerlichen Belastungen derer kommen, die von der Krise wirtschaftlich weniger stark betroffen sind oder gar von ihr profitieren.“
Der Mainzer Professor für Neueste Geschichte, Andreas Rödder, sieht es ähnlich: „Die Situation ist historisch neu. Einen so unmittelbaren Durchschlag auf das Alltagsleben der Menschen wie durch die Corona-krise gab es seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges noch nie.“
Doch sosehr die Corona-pandemie das Leben auf dem Planeten in nie dagewesener Form lahmlegt, gibt es doch einen Vorteil gegenüber anderen großen Krisen. Die Pandemie ist berechenbar. Die Virologen und Statistiker können die Wucht der Ausbreitung des Coronavirus je nach Szenario der sozialen Distanz in Grenzen vorhersagen. Entsprechend
Heinrich August Winkler Historiker
Koreakrieg Der Krieg zwischen dem Nord- und Südteil des Landes von 1950 bis 1953 drohte in einen Atomkrieg auszuarten. Us-general Douglas Macarthur wollte Atombomben auf China abwerfen, um einen Sieg der kommunistischen Verbündeten Mao Zedong (China) und Kim Il Sung (Nordkorea) zu verhindern. Erst als sich die Front stabilisierte, nahm Us-präsident Harry S. Truman Abstand von diesem Plan.
„Es wird eine Umverteilung großen Stils notwendig sein, um die wirtschaftlichen Folgen der Krise zu mildern“
Kuba-krise Die geplante Stationierung sowjetischer Raketen auf Kuba nach der Revolution Fidel Castros hätte im Oktober 1962 fast einen Atomkrieg zwischen den USA und der Sowjetunion ausgelöst. Als Us-präsident John F. Kennedy eine Seeblockade anordnete, lenkte Kremlchef Nikita Chruschtschow ein.
Tschernobyl/fukushima Die Havarien der beiden Atommeiler in der Sowjetunion und Japan setzten große Mengen an Radioaktivität frei. Doch der Schaden blieb beherrschbar. 11. September 2001 Der Angriff islamistischer Terroristen auf das World Trade Center in New York ließ weitere Attacken mit biologischen und atomaren Waffen („schmutzige Bomben“) befürchten. Tatsächlich war die Terrorgruppe Al Kaida dazu nicht in der Lage.
wie nie. Der Ansturm auf Online-mediatheken ist so groß, dass die Eu-kommission Streamingdienste aufgefordert hat, ihre Inhalte in reduzierter Bildqualität anzubieten. Das Internet drohte in die Knie zu gehen. Lehrer haben Wege gefunden, via Webcam zu unterrichten. Die Utopie von einem digitalen Klassenzimmer war noch nie so real. Man mag kritisieren: Wenn es etwas gibt, was Kindern gerade noch gefehlt hat, dann noch mehr Zeit vor dem Bildschirm. Doch gerade sie leiden darunter, ihre Freunde nicht besuchen zu können. So haben die sozialen Netzwerke eine wichtige Funktion in diesen Tagen – nicht nur für junge Menschen.
Sie bringen uns so nahe zusammen wie lange nicht mehr, durch Nachbarschaftshilfen, Spendenaktionen oder gegenseitige Anteilnahme. Der Internet-hass von gestern ist Empathie und Mitmenschlichkeit gewichen. Ob Arbeitnehmer auf den Geschmack von Homeoffice gekommen sind? Ich bin mir sicher: Wenn wir alles eines Tages hinter uns haben, werden wir feststellen, dass die Welt anders sein wird – digitaler. Und das muss nicht schlecht sein.
Richard Gutjahr ist Moderator für das Bayerische Fernsehen und Blogger. Ihre Meinung? Schreiben Sie unserem Autor: kolumne@rheinische-post.de