Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
„Es wird zu viel gejammert“
Der 63-Jährige spricht über seine literarischen Helden, seinen Ruf als Oberlehrer und die Poesie in den Liedern von Reinhard Mey.
DÜSSELDORF Heinz Rudolf Kunze ist zurzeit enorm aktiv. Er veröffentlichte einen Band mit Übertragungen von Texten Bruce Springsteens, außerdem das Buch „Wenn man vom Teufel spricht“mit eigenen Texten und das neue Album „Der Wahrheit die Ehre“, das es auf Platz drei der deutschen Charts geschafft hat. Der 63-Jährige, der 1985 den Riesen-hit „Dein ist mein ganzes Herz“hatte, ist ein politischer Kopf, der die Gegenwart kommentiert, bisweilen satirisch überzeichnet. Und er ist ein Fan: Wenige können so eindringlich von Hör-erlebnissen und Lektüre-erfahrungen schwärmen wie er.
Sie erinnern mich auf der neuen Platte manchmal an Reinhard Mey. Sind Sie mir deswegen gram? HEINZ RUDOLF KUNZE Ich bin Ihnen nicht gram. Reinhard Mey ist ein guter Freund von mir. Ich frage mich nur, wie Sie darauf kommen. Weil ich nämlich glaube, dass wir trotz unserer Freundschaft doch sehr unterschiedliche Arten von Musik machen.
Ich verstehe das als Kompliment. Reinhard Mey ist ja ein Held. Und ich beziehe mich auf die Texte, die nicht an den Tag gebunden sind, und die Art, wie Sie sie vortragen. KUNZE Das ist Ihr gutes Recht. Aber ich glaube, dass auch im Sprachlichen die Unterschiede zwischen Reinhard und mir sehr groß sind. Reinhard ist für mich der Champion der kleinen, konkreten Alltagsbeobachtung. In seinem berühmtesten Lied „Über den Wolken“zum Beispiel: „In den Pfützen schwimmt Benzin / Schillernd wie ein Regenbogen“. Das ist dieser genaue Blick für Details. Ich bin in vielen Texten sehr viel surrealistischer, sehr viel abgedrehter als der doch immer sehr konkrete Realist Reinhard.
Warum twittern Sie eigentlich nicht? KUNZE Weil mir dafür meine Zeit zu schade ist und mein Leben zu kurz.
Aber man kann bei Twitter seinem Unmut Luft machen und möglicherweise Debatten beeinflussen. KUNZE In der Zeit schreibe ich lieber ein gutes neues Lied.
Was kann man heute mit Popsongs noch ausrichten? KUNZE Das weiß ich nicht. Aber die letzte Verteidigungslinie, die wir Sänger haben, ist die, dass man sagt: Ich habe zumindest Zeugnis abgelegt im biblischen Sinne. Ich habe in einem Lied thematisiert, was mich beschäftigt und es nicht schweigend übergangen. Ob das dann eine Wirkung auf andere Menschen hat, kann man nur hoffen. Was genau die Menschen damit machen, was man ihnen da anbietet, das ist ihr Geheimnis. Ich will sie zu nichts zwingen.
Wirklich nicht? KUNZE Ich will sie in erster Linie hervorragend unterhalten. Ich will ihnen nichts beibringen, sondern sie amüsieren. Und wenn ich sie amüsiere und ihre Lust und Leidenschaft wecke, dann kriege ich sie auch noch für andere Dinge. Und das muss ich erstmal durch gute Musik schaffen.
Sie sagen, Sie wollen den Leuten nichts beibringen. Aber ich habe den Eindruck, dass Sie doch einen Bildungsauftrag zu erfüllen versuchen. Sie haben auf dem neuen Album das Lied „Nackter Fischer“, das von dem Buch „Traurige Tropen“von Claude Lévi-strauss handelt. KUNZE Ich verfolge keinen Bildungsauftrag. Ich amüsiere mich mit Worten.
Neben allem Amüsement versuchen Sie… KUNZE …nochmal zurück dazu: Es hat mich in der Vergangenheit sehr gekränkt und wütend gemacht, dass mich einige Leute als Oberlehrer bezeichnet haben. Weil ich der festen Überzeugung bin, dass ich der am geringsten ausgeprägteste Oberlehrer aller deutschen Texter bin. Alle anderen belehren mehr und schwingen mehr den Zeigefinger wie eine Keule. Und alle anderen wollen den Leuten mehr Absichten und Botschaften in den Hals würgen als ich.
Also, als oberlehrerhaft habe ich das auch gar nicht empfunden. Wenn Sie das so aufgefasst haben, war das ein Missverständnis. Ich kenne halt nur niemanden sonst, der ein Lied über den französischen Strukturalisten Lévi-strauss gemacht hat. KUNZE Das kommt einfach daher, dass mich das fasziniert. Ich habe sein Buch gelesen, und es hat mich fasziniert. Wobei der Anfang des
Lieds viel banaler ist. Ich habe das Männchen gesehen, das der Verlag S. Fischer als Logo verwendet: eine kleine nackte Figur, die ein Fischernetz zieht. Das hat das Lied ausgelöst. Seien Sie jetzt bitte nicht allzu enttäuscht!
Im Gegenteil. Denn, Verzeihung: Auch das Logo des S. Fischer-verlags als Auslöser eines Liedes ist schon sehr bildungsbürgerlich. KUNZE Ich kann nichts dafür, ich lese halt gern. (lacht)
Was denn zurzeit? KUNZE Ein sehr interessantes Buch von dem Soziologen Stefan Wolle: „Aufbruch nach Utopia“über die DDR in den Jahren unmittelbar nach dem Mauerbau.
Wer sind musikalisch Ihre Hausheiligen? KUNZE Tja, wissen Sie, ich besitze an die 40.000 Tonträger.
Ehrlich? KUNZE Ja. Das ist, als würden sie Reich-ranicki nach seinem Lieblingsbuch fragen.
Ich wünschte, ich hätte es getan. KUNZE Also, die beste Band der Welt ist King Crimson. Die zweitbeste Band der Welt ist Yes.
King Crimson kann ich nachvollziehen, Yes nicht so. Die habe ich seit den 80ern nicht mehr gehört. KUNZE Da war deren große Zeit längst vorbei.
Und textlich? KUNZE Wer mich sehr stark beeinflusst hat, sind die beiden deutschen Pop-lyriker Wolf Wondratschek und Rolf Dieter Brinkmann. Die haben mir gezeigt, dass man Rock ’n’ Roll in die Sprache bringen kann. Außerdem bin ich von allen elektrischen englischen und amerikanischen Erzählern fasziniert.
Allen voran bestimmt Bob Dylan. KUNZE Sicher, ja, aber eigentlich halte ich Leonard Cohen für den bedeutenderen Texter. Und der größte lebende Solokünstler ist Nick Cave.
Sie haben Bruce Springsteen gar nicht erwähnt. Trotzdem haben Sie 100 seiner Texte für den Reclam-band „Like A Killer In The Sun“übersetzt. Warum? KUNZE Ich bin gefragt worden, und ich kann schlecht nein sagen.
Mögen Sie Springsteen in Wirklichkeit gar nicht? KUNZE Doch, aber er ist bei mir im Olymp nicht ganz oben. Der Mann ist okay, aber er ist einer von vielen, die ich gut finde. Tom Petty zum Beispiel finde ich musikalisch wesentlich spannender.
Sie haben ein Buch veröffentlicht, darin ist ein sehr trauriger Text. „Musik ist“lautet sein Titel, und darin heißt es, dass es Musik auch dann geben würde, wenn es keine Menschen gäbe. KUNZE Das soll meinen ungeheuren Respekt vor Musik zum Ausdruck bringen. Ich hoffe, dass es Musik immer gibt, auch wenn es uns nicht gibt.
Aber das hieße ja, dass wir völlig unbedeutend sind für das Vorhandensein des Schönen in der Welt. KUNZE Nein, nicht völlig unbedeutend, aber auch nicht der Weisheit letzter Schluss.
Wünschen Sie sich von Ihren Kollegen manchmal mehr Engagement und Deutlichkeit in Bezug auf aktuelle politische Entwicklungen? KUNZE Ja, ich glaube, es wäre erfreulich für die musikalische Landschaft, wenn es mehr Lieder mit Inhalten geben würde. Allgemein ist mir da zu viel Bauchnabel-gestarre und Gejammere.