Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Vorsichtige Lockerungen, strapazierte Nerven
ANALYSE Bund und Länder einigen sich auf die Zulassung von Gottesdiensten und die Öffnung von Spielplätzen, doch Schulen und Kitas bleiben vorerst weiter zu. Vertreter von Bildung und Wirtschaft verlieren die Geduld, Politiker prophezeien einen gefährlich
BERLIN Viel Enttäuschung und nur verhaltener Beifall – beides war zu hören nach den jüngsten, vorsichtigen Lockerungsbeschlüssen von Bund und Ländern in der Corona-krise. Die Kirchen reagierten erleichtert darauf, die Gotteshäuser ab sofort unter strengen hygienischen Auflagen wieder bundesweit öffnen zu können. Auch die Betreiber von Museen, Zoos, Gedenkstätten und botanischen Gärten atmeten auf, weil auch für sie die Zeit der Schließung vorbei sein soll. Doch heftige Kritik kam von Bildungs- und Mittelstandsvertretern. Familienverbände und die Lehrergewerkschaft GEW können nicht verstehen, warum sich Bundeskanzlerin und Ministerpräsidenten nicht schon mit den fertigen Konzepten der Kultusminister zur Wiederöffnung der Schulen und Kitas befasst haben. Die beschlossene Öffnung nur der Spielplätze reiche nicht aus. Und beim Mittelstand ist der Geduldsfaden gerissen: Seine Verbände sehen Hunderttausende Firmen und Existenzen durch den Shutdown bedroht.
Für jene, die schon seit Tagen nach mehr Lockerungen rufen, gibt es vor allem eine Verantwortliche für den wirtschaftlichen Absturz der vergangenen Wochen: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Der vorsichtige Kurs der Physikerin empört etwa den Bundesverband der mittelständischen Wirtschaft. In einem Brief des Verbands an Merkel und die Ministerpräsidenten heißt es: „In großer Sorge um die Zukunft dieses Landes
und um den Wohlstand seiner Bürger appellieren wir an die Politik: Beenden Sie die einseitige Fixierung auf eine rein virologische Sichtweise und damit das gefährliche Spiel mit den Zukunftschancen dieses Landes.“Zuvor hatten die Familienunternehmer einen ähnlichen Brandbrief verschickt.
Doch Merkel lässt sich nicht beirren. Sie dringt weiter auf Vorsicht. Vor allem auf sie ist es zurückzuführen, dass die Runde der Spitzenpolitiker von Bund und Ländern nun erst am 6. Mai über die vorliegenden Konzepte zur Öffnung von Schulen und Kitas beraten werden. Bildungs- und Familienverbände hatten dies bereits für Donnerstag erwartet. Doch Merkel legt Wert auf wissenschaftlich fundierte politische Entscheidungen. Erst am 6. Mai wird die von Virologen empfohlene 14-Tage-frist seit der Öffnung der Geschäfte vorbei sein und erst dann lässt sich nachweisen, ob sie zu einem zu starken Anstieg der Neuinfektionen geführt hat oder nicht.
Noch hat Merkel mit ihrem vorsichtigen Kurs die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich. Nonchalant hatte Merkels Kanzleramtsminister Helge Baun (CDU) noch vor der Bund-länder-runde am Donnerstagmorgen bekannt gemacht, die generellen Kontaktbeschränkungen würden noch mindestens bis zum 10. Mai gelten. Einen offiziellen Beschluss gab es dazu noch gar nicht. Doch drei Viertel der Deutschen halten einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa zufolge die Verlängerung der Kontaktbeschränkungen bis 10. Mai für richtig. Nur 22 Prozent sind dagegen. Vor allem die 14- bis 29-Jährigen stimmten der Verlängerung zu. Die 45- bis 59-Jährigen äußerten die größte Missbilligung.
Hilfreich ist für Merkel auch die Unterstützung durch Bayerns Ministerpräsident Markus Söder. Der CSUCHEF profiliert sich neben der Kanzlerin seit Wochen als Oberbremser in der Lockerungsdiskussion, während Nrw-ministerpräsident Armin
Laschet (CDU) den Gegenpart übernommen hat und dabei bisher weniger gut abschneidet. Auch am Donnerstag nutzte Söder wieder die Gelegenheit zur Profilierung: Er sprach mehr als doppelt so lange wie die Kanzlerin – und sagte am Ende doch nicht mehr als sie.
Politische Gegner auf der rechten Seite wittern jedoch längst, dass es zu einem Stimmungsumschwung kommen kann, wenn immer mehr Menschen um ihre Jobs und Existenzen fürchten. Gerade hat die Bundesagentur für Arbeit (BA) alarmierende Zahlen bekannt gegeben: Erstmals in der Geschichte der Ba-statistik stieg im Frühlingsmonat April die Zahl der Arbeitslosen – und zwar deutlich um mehr als 300.000 gegenüber dem Vormonat. Und die Zahl der Anmeldungen für Kurzarbeit überstieg die Zehn-millionen-marke, das sind fast ein Drittel aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten.
„Es droht eine beispiellose Entlassungswelle“, unkte Afd-parteichef Jörg Meuthen am Freitag auf seiner Facebook-seite. „Unzählige selbstgenutzte, kreditfinanzierte Immobilien stehen auf dem Spiel. Familiäre Tragödien drohen.“Und Friedrich Merz, der sich als konservative Alternative zu Laschet um den Cdu-vorsitz bewirbt, prophezeite vor Tagen: „Schon jetzt ist zu sehen, dass die Stimmung in der Bevölkerung kippt.“Merkel muss also achtgeben, dass ihr nicht dasselbe passiert wie in der Flüchtlingskrise 2015. Damals stand die Mehrheit der Bürger zunächst hinter ihr, doch dann wandte sie sich von ihr ab.