Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Musizieren mit Abstand
Zahlreiche Chöre und Orchester sind derzeit zur Tatenlosigkeit verurteilt. Aber für alle gibt es intelligente Auswege aus der Krise.
DÜSSELDORF Die Wiener Philharmoniker machen ihre Aufwartung, da ziehen Zuhörer etwas Elegantes an. Sie hat sich ein todschickes Kleid, er einen neuen Anzug zugelegt; für das Violinkonzert von Tschaikowski ist das die perfekte Garderobe. In der Pause werden sie ein Piccolöchen prickeln lassen, bis als Finale Schumanns „Rheinische“erklingt.
Momentan erklingt überhaupt nichts. Die Corona-krise hat die Klassik hart getroffen, Chöre singen und Orchester proben nicht mehr, Konzerte fallen reihenweise aus, Zuhörer müssen ihre Tickets zurückgeben oder sich mit einem Ersatztermin im Spätherbst anfreunden. Da zerbrechen Rituale und schöne Gewohnheiten, manchen wird ein aparter Zeitvertreib, anderen ein Lebensinhalt geraubt.
In der Not haben Künstler Behelfsangebote organisiert, der Pianist Igor Levit sendet via Twitter aus seinem Wohnzimmer und versammelt eine anonyme Gemeinde, Intendanten stellen alte Konzerte ins Internet oder packen historische Opernabende auf ihre Website. Es ist ein Künstlertum aus dem Archiv, mit reduzierter Alltagstauglichkeit.
Jetzt haben die ersten Orchester wieder begonnen, Konzerte live im Internet zu geben und gleichzeitig Abstandsregeln zu berücksichtigen. Die Berliner Philharmoniker haben soeben ein klanglich abgespecktes Europa-konzert unter Kirill Petrenko über ihre „Digital Concert Hall“ausgestrahlt, die Düsseldorfer Symphoniker haben die verwaiste Tonhalle mit einem klingenden Abend aus Kleingruppen reanimiert. Überall waren Hausmeister und Putzkolonnen im Einsatz, die Musiker wurden in Gruppen separiert und traten mit gehörigem räumlichen und zeitlichen Abstand auf.
Doch auf der Bühne wurde die ganze Misere offenkundig. Statt im Kollektiv wirkten die Künstler als Kammermusiker, jeder ein Solist mit ungewöhnlich viel Aktionsraum für den Bogenarm und den Zugriegel der Posaune. Der Abstand zum Nachbarn wurde vorher mit dem Zollstock ausgemessen, besonders viel Luft bekamen die Bläser.
Nun gibt es derzeit zahllose Studien, die sich mit dem Coronavirus beschäftigen. Aber zur Übertragungsfähigkeit von Viren beim Musizieren und Singen fehlt es an Daten. Allerdings gibt es schauerliche Berichte von Chören, bei denen eine Probe ausreichte, um fast die komplette Belegschaft zu infizieren. Wie konnte das passieren? Und gäbe es überhaupt Richtwerte für ein öffentliches Musizieren?
Beim Singen ist die Sache klar. Wer singt, verbreitet Tröpfchen und Aerosole, die Viren transportieren können. Beim Singen können sie in riesiger Zahl durch die Luft fliegen, wobei einige Parameter spielentscheidend werden, etwa Raumfeuchtigkeit oder Luftzirkulation. Je feuchter die Luft, desto schwerer die Tröpfchen; umso schneller sinken sie zu Boden. Bei trockener Luft können Aerosole über mehrere Minuten und Meter durch den Raum schweben und sich zu Wolken verdichten. In Corona-zeiten spielen auch Aerodynamik und Meteorologie eine Rolle. Die Frage ist: Wie weit fliegen Viren?
Das Freiburger Institut für Musikermedizin hat dieser Tage eine eher provisorische Risikoeinschätzung vorgelegt und auf einen wichtigen Aspekt hingewiesen: Möglicherweise werden Viren beim Musizieren gar nicht so stark aktiviert. Andererseits wird viel Schleim produziert, der sich aus dem Instrument oder aus dem Sängerhals absetzt. Die Experten schreiben: „Der für die Allgemeinbevölkerung geltende Abstand von 1,5 bis zwei Metern sollte für die Musikausübung mit anderen Personen durch Vergrößerung auf drei bis fünf Meter deutlich übererfüllt werden, um hierdurch das Infektionsrisiko zu verringern. Zudem kann vermutlich in sehr großen Räumen wie Konzertsälen durch weitere Maximierung des Abstandes und durch eine sehr gute Belüftung das Risiko zusätzlich verringert werden.“
Und dann gilt ja auch die Vermutung, dass Quer- und Piccoloflöten (ohne umschließendes Mundstück) deutlich mehr potenziell gefährliche Tröpfchen an die Umgebung abgeben als etwa Trompete oder Horn (die andererseits regelmäßig Wasser aus ihren Instrumenten auf den Fußboden ablassen).
Über Chöre meinen die Freiburger Ärzte: „Bereits in kleinen Chorformationen von mehr als fünf Sängern ist davon auszugehen, dass sich das Infektionsrisiko durch die im Raum befindliche Durchmischung und den Austausch von Aerosolen potenziert.“Quintessenz: Chöre sollten vorerst nicht auftreten.
Das ist eine seriöse medizinische Argumentation, für die es bei strenger Auslegung kaum eine Alternative gibt. Oder doch? Müssen denn unsere vielen nach Musik dürstenden Chöre in diesen Zeiten immer in voller Mannschaftsstärke zur Probe erscheinen? Dirigenten könnten sie auf Kleingruppen aufteilen – an einem Tag nur die Tenöre, an einem anderen nur die Sopräne. Ungelüftete Gemeindesäle sind hierzu fraglos ungeeignet, doch eine Probe in luftiger Halbkreis-aufstellung in der Kirche oder einem Open-airraum mit fünf Metern seitlichem Abstand und zehn Metern zum Dirigenten würde wohl auch Infektiologen überzeugen. Oder der Dirigent nimmt für eine Probe aus jeder Stimmgruppe je zwei Sängerinnen und Sänger und probt danach mit jeweils anderen Untergruppen. Er selbst könnte sich mit einer Maske schützen.
So viel zur Theorie. In der Praxis werden vorerst riesige Durststrecken zu ertragen sein. Mahler-symphonien im Konzert, Strauss‘ „Elektra“in der Oper, Mozarts „Krönungsmesse“in der Kirche – das können wir einstweilen vergessen. Wir erleben die Zeit der Miniaturen, die freilich das Zeug zu solistischen Sensationen bergen. Bei rigoroser Auslegung der Regelwerke könnte es sie sogar vor Publikum geben – handverlesen und systematisch auf die Reihen verteilt. Ein Konzert muss ja auch nicht zwingend zwei Stunden mit Pause dauern, dennoch könnte es zu jenem atmenden Gemeinschaftsgefühl im Raum kommen, an dem Musiker und Zuhörer beteiligt sind.
Improvisation und Phantasie sind also gefragt. Musizieren vom Balkon ist ohnedies erlaubt. Und von der Kirchenempore wohl auch: Orgelkonzerte, gern auch mit Trompete oder Solosopran, sind virologisch ohne Zweifel unbedenklich.