Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Ein sanftes Rütteln am Zaun
Olaf Scholz hat nur ein halbes Jahr nach seiner Niederlage im Rennen um den Spd-vorsitz beste Chancen, Spitzenkandidat im Bundestagswahlkampf 2021 zu werden.
angreifen. Der Ausbruch der Corona-krise hat auf den 61-Jährigen gewirkt wie Blutdoping bei Leistungssportlern: Scholz hat hochgedreht, ist häufiger im Fernsehen zu sehen als Merkel oder Altmaier. „Scholz ist in der Krise das Gesicht der SPD“, stellt ein Parteifreund aus der Fraktionsspitze zufrieden fest.
In seiner Partei konnte Scholz mit dem Kurswechsel Konflikte befrieden und Sympathien auch bei Kritikern zurückgewinnen, die ihm im Herbst vergangenen Jahres die größte Niederlage seiner langen Politik-karriere zugefügt hatten: Der Pragmatiker unterlag im Rennen um den Spd-vorsitz überraschend gegen das „linke“Duo Norbert Walter-borjans
und Saskia Esken. Dass er nur ein halbes Jahr später wie ein Phönix aus der Asche kommt und auf die Spd-kanzlerkandidatur zusteuert, hätte damals keiner geglaubt. Aber nun läuft alles auf Scholz hinaus.
Selbst frühere Gegenspieler, deren Zahl über die Jahre eher gewachsen war, zeigen sich mittlerweile begeistert von ihm. In der Corona-krise würden auch Fehler gemacht. Im Zuständigkeitsbereich des Finanzministers aber nicht, heißt es aus Parteikreisen. Scholz lege ein Arbeitspensum an den Tag, das für mehrere Personen reichen würde. Er liefere trotzdem auf höchstem Niveau ab. Da Scholz jetzt nicht mehr auf der Bundeskasse sitzt, sind auch frühere Differenzen mit Walter-borjans, dem einstigen Nrw-finanzminister, um den Kurs der Finanzpolitik beigelegt: Beide marschieren nun Hand in Hand in Richtung Neuverschuldung und Ausgabensteigerung.
Zudem kann Scholz an anderer Stelle punkten, er wird nahbarer. Als er in der Corona-krise sich selbst die Haare schnitt, ging das gründlich schief. Er rasierte sich versehentlich kahle Stellen, zeigte sich damit aber trotzdem vor Kameras. Der sonst eher eitle und kühle Genosse wirkte dadurch menschlicher. Was viele nicht wissen: Scholz kann lustig und unterhaltsam sein, er hat einen Sinn für Selbstironie. In Interviews oder bei Parteitagsreden bringt er das jedoch nie rüber. Scholz blieb der hölzern sprechende „Scholzomat“. Es hatte schon fast etwas von einem Kult der Spd-delegierten, den Hanseaten mit schlechten Ergebnissen bei Parteitagen auszustatten. Die Niederlage gegen Esken und Walter-borjans war die ultimative Demütigung. Doch Scholz schmiss als Finanzminister nicht hin, und er war sich der wackeligen Machtbasis der neuen Spitze stets bewusst. Jetzt genießt er die höchsten Beliebtheitswerte.
Dass die SPD einen Mitgliederentscheid zur Frage der Kanzlerkandidatur abhalten sollte, findet in der
Partei derzeit wenig Zustimmung. Im Willy-brandt-haus warnt man vor einem weiteren Nabelschauprozess. Nein, Scholz darf darauf hoffen, als einziger Kandidat von Delegierten für das Rennen um das Kanzleramt auserkoren zu werden. Das will er, das ließ er bereits mehrfach in Interviews durchblicken. Er rüttelt – anders als einst Gerhard Schröder – sanft am Zaun des Kanzleramts. Aber er rüttelt.
Und Alternativen gibt es in der SPD derzeit kaum. Malu Dreyer winkte bereits beim Vorsitz ab. Manuela Schwesig hat zwar ihre Krebserkrankung besiegt, muss sich aber auf ihr Ministerpräsidentenamt in Mecklenburg-vorpommern konzentrieren. Franziska Giffey will Bürgermeisterin in Berlin werden. Und Arbeitsminister Hubertus Heil hat intern bereits abgesagt.
Der Weg für Scholz scheint damit frei zu sein. Und es könnte alles sehr schnell gehen mit seiner Kanzlerkandidatur. „Es gibt gute Gründe, unseren Kanzlerkandidaten vor der CDU zu küren, möglichst bereits im Oktober oder November“, sagte Fraktionsvize Achim Post.
Wenn auch nicht zu einer „Bazooka“, so könnte Scholz bei der Bundestagswahl 2021 doch zu einer ansehnlichen Waffe der Sozialdemokraten werden – vorausgesetzt, er kann seinen aktuellen Vorsprung bis in den Herbst 2021 konservieren.