Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Lang lebe der Flickenteppich!
INFO Vom „Flickenteppich“zur Bundesrepublik
MEINUNG Den Föderalismus empfinden gerade in der Pandemie viele als Zumutung: Warum dürfen Thüringer, was Bayern verwehrt bleibt? Dabei steckt in der Diversität wahre Stärke. Leider haben sich die Länder selbst entmachtet.
Armin Laschet muss es wissen. Nordrhein-westfalen sei das „Land der Küchenbauer“, sagte der ortsansässige Ministerpräsident vor einigen Wochen. Er gründete dies offenbar auf dem Umstand, dass 60 Prozent aller deutschen Küchen in Ostwestfalen produziert werden. Dementsprechend wäre NRW übrigens auch das „Land der Steckdosen“. Immerhin werden 70 Prozent aller deutschen Steckdosen in Südwestfalen hergestellt. Zutreffend wäre überdies: „Land der untergehenden Sonne“, aber das wäre politisch noch missverständlicher.
Im Land der Autobahnknoten, der Bergbauschäden, der Kleingärten, im Land der untergehenden Sonne, der Steckdosen und der Küchenbauer nimmt man solchen folkloristischen Unfug amüsiert zur Kenntnis. Land der Küchenbauer? Ja, nee, is klar. In Nordrhein-westfalen sind die Leute, wie der Name schon sagt, einiges gewohnt.
Die Bundesländer sind Orte für schöne Worte, nicht für schwere Stunden. In Wahlkämpfen stellen Wahlkämpfer überrascht fest, dass die Länder, die sie zu regieren gedenken, ganz hübsch sind, die Einwohner ganz nett und die Statistiken ganz gut. Sie beschwören dann das Bundesland als Vaterland, als stünde im Personalausweis unter Nationalität: Nordrhein-westfale oder Baden-württemberger. Wenn es aber knüppelhart kommt, etwa während einer Pandemie, dann sind die Länder weder hübsch noch nett. Dann stören sie.
Die Einheit gilt als Schlüssel zum Erfolg. „Wenn man zusammensteht und eng zusammenrückt, kann man alles schaffen“, wusste der Fußballlehrer Niko Kovac zu berichten. Kaiser Wilhelm II., offenbar ein früher geistiger Bruder Kovacs, sagte 1914 im Angesicht des Krieges: „Noch nie ward Deutschland überwunden, wenn es einig war.“Aber der föderale Bundesstaat ist keine Fußballmannschaft, eine Pandemie kein Krieg.
Zu Beginn der Corona-pandemie gingen die Länder voran. Für die Gegner des Föderalismus war das eine Tortur: Die Bayern durften nicht mehr ohne triftigen Grund das Haus verlassen, die Nordrhein-westfalen bald wieder zu Ikea. Es verging kaum eine Woche, in der nicht jemand vor dem „Flickenteppich“gewarnt hätte. Wenn der grüne Schwabe Winfried Kretschmann nun ankündigt, Corona sei Ländersache, weil die Absprachen mit dem Bund enden würden, dann werden die Zentralisten in Berlin natürlich nervös.
Der Flickenteppich ist das Schreckgespenst des deutschen Föderalismus. Wann immer in zwei Ländern ein Problem unterschiedlich gelöst wird, holt irgendjemand den Flickenteppich aus der Kiste – gibt’s bei Ikea übrigens ab 3,99 Euro. Doch nicht nur die Teppich-metapher ist schräg, auch das dahinter stehende Argument.
Was genau soll denn bitte schlecht daran sein, wenn Bundesländer unterschiedliche politische Lösungsansätze verfolgen? Immerhin können die Länder von den Erkenntnissen der anderen lernen. Mecklenburg-vorpommern gelingt die Unterbringung von Geflüchteten problemlos? Dann können sich die anderen doch mal erkundigen, wie das geht, und vielleicht das dortige System sogar fortentwickeln. Ein Zentralstaat, der alles von Berlin aus diktiert, hätte jedenfalls deutlich weniger politische Experimentierfläche. Aber klar, auch vor Experimenten haben manche Angst.
Der Föderalismus hat Gegner, seit es ihn gibt. Zufallsgebilde seien die Länder, von den Alliierten oktroyiert, die Abstimmung sei umständlich, die Verwaltung teuer, die Unterschiede zwischen den Ländern behinderten die Freizügigkeit der Bürger. Alles eiskalter Kaffee. Mal abgesehen davon, dass eine gewisse Schwerfälligkeit in der Entscheidungsfindung durchaus gewünscht und Demokratie eben teuer
Vor 1806 Beim „Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation“handelte es sich nicht um einen Staat im heutigen Sinne, sondern um einen Flickenteppich von rund 300 Herrschaftsbereichen. 1806 erklärte Kaiser Franz II. das Reich – unter dem Druck des Eroberers Napoleon – für aufgelöst. 1815 bis 1945 Im November 1814 richteten 29 deutsche Staaten den Wunsch eines Bundesstaats an den Wiener Kongress. Stattdessen entstand nach der Niederlage Napoleons der „Deutsche Bund“. 1871 gründeten die Fürsten das Deutsche Kaiserreich als Bundesstaat. Auch in der Weimarer Republik (1918–1933) gab es mit 24 Ländern ein föderalistisches Prinzip. Die Nazis forcierten dann mit der „Gleichschaltung“den Zentralismus.
Diversität wird bloß als Streit wahrgenommen. Söder gegen Laschet gegen Ramelow, als sei Politik eine Sportart
Nach 1945 Auch als Gegenmodell zum Ns-staat gründeten die Alliierten 1949 die föderalistische Bundesrepublik. In der DDR galt das Prinzip des „demokratischen Sozialismus“; die Länder wurden abgeschafft. Nach dem Mauerfall veränderte sich Deutschland erneut. Seit 1990 besteht die Bundesrepublik aus 16 Bundesländern. Sie bilden einen Staat – keinen losen Staatenbund.
Geist aber sind sie sicher nicht gerecht geworden. Cummings gab sich trotzig, Van der Bellen reuig. Der eher linke Präsident wird nun von den Rechtspopulisten der FPÖ angegangen, während der populistische Berater bei eher Linken in Britannien in der Kritik steht. Eine nette Verschränkung, die aber nur auf die Universalität des Problems dahinter hinweist: Vermutlich haben wir alle schon gegen unsere Corona-auflagen verstoßen. Ohne Maske ins Geschäft, mit Maske ans Steuer, zu wenig Abstand, Gruppe zu groß – das geht schnell und geschieht, darf man angesichts der breiten Zustimmung zu den Einschränkungen unterstellen, oft unwillentlich.
Je mehr Verbote fallen und durch Gebote oder Empfehlungen ersetzt werden, desto größer aber wird die Verantwortung des und der Einzelnen. Selbstbeschränkung, altertümlicher: Mäßigung, gehört nicht nur zu Ciceros Kardinaltugenden, sie wird auch zur virologisch relevanten Verhaltenskategorie. Ihr zu folgen, wird bei nachlassendem äußeren Druck und wachsender kollektiver Ungeduld immer schwieriger. Aber es bleibt ja richtig: Nicht alles, was man tun darf, sollte man auch tun. Die Herren Van der Bellen und Cummings lassen grüßen.
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