Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Mangel an Pneumokokken-impfstoff sorgt Ärzte
Udo Kratel ist der neue Vorsitzende des Praxisnetzes. Er spricht über die Arbeit des Gremiums, über Corona und Pneumokokken.
Herr Dr. Kratel, was sind Aufgaben, was ist das Selbstverständnis des Praxisnetzes? UDO KRATEL Das Selbstverständnis ist die Idee der „virtuellen Gemeinschaftspraxis“. Das heißt konkret eine gute fachliche Vernetzung unter allen Mitgliedern mit dem Ziel, für die Bürger der Stadt und in der Region eine optimale medizinische Versorgung unter Einbindung aller Fachrichtungen zu organisieren und die Patienten auf kurzen Wegen im hausärztlichen wie auch im fachärztlichen Versorgungssektor gut und empathisch zu betreuen.
Im Praxisnetz sind nicht nur Dormagener Ärzte Mitglied? KRATEL Die Zahl der Mitglieder beläuft sich derzeit auf 119, darunter befinden sich auch zahlreiche Ärzte aus Neuss und dem Kölner Norden, die das Modell „Praxisnetz“attraktiv fanden und dort engagiert mitwirken. Die Aufgaben des Netzes beziehen sich vor allem auf die Gesundheitsvorsorge für ganz Dormagen und Umgebung, das schließt auch die recht komplexe Organisation der Notdienstpraxis im Krankenhaus mit ein. Darüber hinaus nehmen wir allerdings auch allgemeine berufspolitische und gesundheitspolitische Aspekte in den Fokus. Eine weitere wichtige Aufgabe ist die Weiterentwicklung der Kooperation mit den Rheinland Kliniken in Dormagen und Neuss. Wir treffen uns seit acht Jahren mit den Leitungskräften der Kliniken und versuchen, die sogenannten Schnittstellen-probleme beim Übergang von der ambulanten zur stationären Versorgung (und umgekehrt) zu klären und Lösungen im Sinne unserer gemeinsamen Patienten zu erarbeiten.
Vorstand Vorsitzender Udo Kratel, stv. Vorsitzender Marco Pieper, Kassenführerin Martina Reimer, Schriftführerin Alexandra Hülsdonk, Beisitzer: Tim Wonsyld, Margit Wonsyld, Thomas Kuhl, Kim Goldschmidt.
Ist die Corona-pandemie das derzeit vorherrschende Thema in den Praxen? KRATEL In der Tat ist die Corona-pandemie das aktuell beherrschende und uns bis an die Grenzen der Belastbarkeit beschäftigende Problem. Auch in diesem Aufgabenfeld haben sich die vernetzten Strukturen des Praxisnetzes seit Ende Februar, als es mit Corona so richtig losging, außerordentlich bewährt.
Stichwort Testzentrum... KRATEL Genau. Wir haben Anfang März ein eigenes Corona-testzentrum gegründet, das wir Ende März mit den Neusser Kollegen im TCN zur Fusion brachten, um
Synergie-effekte zu nutzen. Zudem beschafften wir, als es in den ersten Wochen keinerlei Schutzausrüstung für uns Ärzte und unser Praxispersonal gab, zentral alles an Masken, Schutzkleidung und Desinfektionsmittel, was irgendwo zu bekommen war und verteilten diese Materialien nach Bedarf an alle Praxen. Die Corona-pandemie stellt eine extreme Herausforderung für unser gesamtes, auch unser lokales Gesundheitssystem dar, und nur im kollegialen Miteinander können wir diese Aufgaben lösen.
Wahrscheinlich sind in dieser Zeit Ärzte auch als Psychologen besonders gefordert... KRATEL Als Ärzte kooperieren wir eng mit den ortsansässigen psychologischen Psychotherapeuten, deren Kompetenz wir sehr schätzen. An der hausärztlichen Basis sind wir in diesem Jahr aber auch tatsächlich mehr als je zuvor in die psychosoziale Begleitung unserer Patienten eingebunden, die sich aus guten Gründen große Sorgen um ihre Gesundheit machen.
Was sagen Sie zu den Coronaschutz-regelungen in NRW? Was könnte anders was besser sein? KRATEL Wir sind in Deutschland im internationalen Vergleich und speziell auch im Rhein-kreis Neuss sehr glimpflich davon gekommen! Das hat auch mit einem gut entwickelten Gesundheitssystem
im ambulanten wie auch im stationären Sektor zu tun. Wir Ärzte befürworten aufgrund der im Wesentlichen sinnvollen und effektiven Maßnahmen die Entscheidungen der Bundesregierung und auch der Nrw-landesregierung, so zum Beispiel in Bezug auf die Maskenpflicht, den vorübergehenden Lockdown, die Begrenzung der maximalen Personenzahl bei privaten und öffentlichen Veranstaltungen. Große Bedenken habe ich persönlich beim aktuell verhängten „Beherbergungsverbot“im innerdeutschen Reiseverkehr. Dafür sehe ich keine medizinische Grundlage und fürchte, dass die Bevölkerung, die ja alle Maßnahmen bislang recht tapfer und geduldig mitgetragen hat, kein Verständnis mehr haben wird. Und das könnte dann insgesamt zu dramatischen Akzeptanz-problemen bei weiteren Corona-schutzmaßnahmen führen.
Müssen sich Patienten sorgen, die mangels Impfstoff nicht gegen Grippe geimpft werden können? KRATEL Die Die Grippe-impfung ist im Corona-jahr 2020 wichtiger denn je. Dies gilt nicht nur für die sogenannten Risikogruppen, sondern für die gesamte Bevölkerung, damit es im Zweifelsfalle nicht zu einer Doppelinfektion Corona und Influenza kommt. Daher haben die Krankenkassen die Impfung für alle Altersgruppen freigegeben und übernehmen die Kosten in vollem Umfang. Aktuell bestehen bereits Lieferschwierigkeiten, aber sowohl das Bundes- als auch das Landesgesundheitsministerium haben zugesichert, sich um mehr Impfchargen kümmern zu wollen.
Es gibt anscheinend Probleme bei der Pneumokokken-impfung – was ist da der Hintergrund und warum ist sie so wichtig? KRATEL Ein völlig ungelöstes Problem ist der aktuelle Mangel an Pneumokokken-impfstoff, der eine bakterielle Lungenentzündung verhindern kann. Niemand konnte mir bisher plausibel erklären, warum es an diesem wichtigen Impfstoff mangelt, warum die Lieferketten nicht funktionieren und vieles mehr. Sobald der Impfstoff wieder verfügbar ist, sollten sich vor allem die Risikogruppen impfen lassen, das heißt alle Menschen über 70 Jahre und solche mit chronischen Erkrankungen. Es könnte sich aber – und das mag etwas Beruhigung in die Impfdebatte bringen – durch die Maskenpflicht und Abstandsregeln quasi als Nebeneffekt zeigen, dass auch die Virusgrippe und andere Infektionskrankheiten, die per Tröpfchen-infektion oder Aerosol übertragen werden, in der Herbst-winter Saison 2020/21 insgesamt seltener als zuvor auftreten.
Im Gespräch ist, dass es für Ältere gut sei, sich (auch) gegen Gürtelrose impfen zu lassen. Was sagen Sie? KRATEL Diese Impfung hat in einigen Fällen heftige Impfreaktionen an der Haut ausgelöst, so dass das Paul-ehrlich-institut eine Impf-beobachtungsstudie zur Klärung dieses Sachverhaltes aufgelegt hat. Meines Erachtens sollten wir diese Untersuchungen unbedingt abwarten, bevor in größerem Stil weiter geimpft wird. Im Übrigen ist die Gürtelrose eine zwar sehr lästige, aber in aller Regel keine lebensbedrohliche Erkrankung – ganz im Gegensatz zur Grippe, Lungenentzündung und natürlich Covid 19.