Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Erinnerung an Wohnort auf dem Acker
Vor 50 Jahren wurden die ersten Häuser in Erfttal bezogen. Eine Infrastruktur musste erst geschaffen werden.
ERFTTAL Erfttals Twin-towers, wie Hausmeister Gerhard Dreier die von ihm betreuten Wohnblöcke am Ende der Euskirchener Straße gerne nennt, werden 50. Mit ihrem Erstbezug im Herbst 1970 begann die eigentliche Geschichte des am Reißbrett geplanten Ortsteils, mit dem die Stadt das Wohnungsnot-problem lösen wollte. Aus vieler Herren Länder zogen damals die Menschen in die Pflanzstadt auf dem Derikumer Acker, denn vor allem die Aluminiumhütten in der Nachbarschaft warben Facharbeiter an.
Die Pioniere von einst sind die Veteranen von heute. Und ihre Erzählungen von damals fangen oft mit einer langen Liste der Dinge an, die es nicht gab: Keine Buslinie, keine Geschäfte, keine Kita, weder Baum noch Strauch und keinen Spielplatz. Aber den vermisste man am wenigsten. Die Kinder spielten einfach draußen, denn die Großbaustelle Erfttal bot damals Anregung und Abenteuer genug. Alles andere musste aufgebaut werden – mit viel Bürgersinn.
Erika Schacht (85) wäre trotzdem am liebsten gleich wieder abgereist. Sie kam mit Mann und – zuletzt – vier Kindern aus Hattingen, dem grünen, wie sie hervorhebt. Aber im Ruhrpott begann gerade das Hüttensterben, und Ehemann Friedhelm fand in der Aluminiumhütte, wo er am Ende Betriebsratsvorsitzender war, eine neue Aufgabe – und im Haus Euskirchener Straße 98 eine von 222 werksgebundenen Wohnungen. 92 Quadratmeter für sechs Personen. „Das war schon beengt“, sagt sie. Aber andere Dinge störten sie mehr. Weil die Buslinie erst 1972 eingerichtet wurde, musste sie „zum Einkaufen immer zu Fuß über den Bahndamm zu Soumagne“laufen. Und eine Kinderbetreuung gab es auch nicht. Die baute sie provisorisch mit anderen Müttern in einer Baracke auf, bevor sie – ohne das Fach je gelernt zu haben – in die neue Kita der Corneliusgemeinde übernommen wurde.
Rolf Imhoff war 24, als er als Schlosser zum Rheinwerk und damit auch zu einer Wohnung in Erfttal kam. „Die Straße war da, aber fast kein einziges Haus“, erinnert sich der gebürtige Wittener an seinen ersten Eindruck. Abenteuerlich sei es gewesen, aber auch irgendwie schön: „Elektrisches Licht und fließend Wasser – und draußen hoppelten die Hasen“. An seinen Einzug im November 1970 erinnert er sich noch genau: „Da wurde kontrolliert, dass der Aufzug keine Kratzer abbekam“, sagt Imhoff, der 40 Jahre lang als Hausbeauftragter auch dafür verantwortlich war. „Früher konntest du dich vor Kindern kaum retten“, beschreibt er die augenfälligste Veränderung, „heute bewegt sich auf den Spielplätzen nichts“.
Manfred Nachtigall (83) wollte eigentlich nur Gäste aus der DDR zu Verwandten nach Essen bringen, als er dort von einer Cousine erfuhr, dass das Rheinwerk Schlosser einstellt. Also fuhr er gleich weiter. Am 1. September 1970 fing er seinen Job an und wohnte zunächst in einer Werksbaracke. Seine Wohnung im Haus Euskirchener Straße 88 sah er zuerst im Rohbau – und bezog sie im Februar 1971 mit Frau und drei Kindern. Daheim, am Steinhuder Meer, hatte er ein Auto gebraucht, um zur Arbeit zu kommen, in Erfttal war er damit ein Exot. Ein bis zwei davon hätten damals an den Häusern gestanden, sagt er. Und keiner habe sich damals vorstellen können, wofür man so große Parkplätze angelegt hatte. Heute reichen selbst die kaum. Damit es in Erfttal voran geht, brachte sich auch Nachtigall ehrenamtlich ein. Er gründete 1973 den Kleingartenverein, später eine Ortsgruppe des Kreuzbunds und war lange Hausmeister und Küster im Paul-schneider-haus, wo bis 2013 Gottesdienste gefeiert wurden.
Heinz Sahnen (74) lernte all diese Pioniere früh kennen – und den Matsch in Erfttal. Der noch amtierende Stadtrat und langjährige Landtagsabgeordnete war nämlich der erste Postbote im Ort. Zwei Stunden reichten für seine tägliche Runde über das Baustellengelände, aber eigentlich war der Emsländer aus einem anderen Grund nach Neuss gekommen. Er bereitete sich am Abendgymnasium auf das Abitur vor. 1973 ließ auch er sich in Erfttal nieder und wurde Gründungsvorsitzender der Sportgemeinschaft.
Zu den kollektiven Erinnerungen der Pioniere gehört der erfolgreiche Kampf gegen die Absicht, die Euskirchener Straße Richtung Derikum zu verlängern. Und der Brand der Sauerkrautfabrik in Derikum und die Aufregung der Alarmierung. „Wer hatte denn damals schon Telefon?“, fragt Nachtigall.