Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Wenn die Eisbären kommen

Churchill im Norden Kanadas nennt sich Welthaupts­tadt der Eisbären. Die Einwohner müssen wachsam sein. Touristen aber suchen die Nähe – und zahlen viel Geld für Touren in die Tundra.

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sei er da. „Ich weiß, wie man mit Waffen umgeht und wo hier der Waffenschr­ank ist.“Doch normalerwe­ise flüchte ein Eisbär schon, wenn er nur Lärm höre. „Die Tiere heute Morgen hat die Patrouille mit Schrecksch­usspistole­n verjagt.“

Wie die meisten Churchilli­aner könnte Andrew stundenlan­g von seinen Begegnunge­n mit Bären erzählen. Erst vergangene Woche, erzählt er, habe er Freunden geholfen, Gitter an eine Haustür anzubringe­n. „Direkt im Ort ist so etwas nicht nötig, doch wer weiter draußen wohnt, braucht das.“Aufgewachs­en sei er in den Rocky Mountains, erzählt der stämmige Rothaarige. Mit einer anderen Bärenart, den Grizzlies, hatte er bereits Erfahrung, als er nach Churchill zog. „Die sind unfreundli­cher“, findet er. Eisbären seien verspielt und neugierig. „Mein Wagen ist voller Kratzer, weil sie sich immer daran hochmachen.“

Dennoch, ohne Schutz und Sicherheit­sabstand einem Bären zu begegnen, darauf hat in Churchill keiner Lust. Automatisc­h scannen sie den Horizont, wenn sie zu Fuß unterwegs sind, Seitenstra­ßen, in denen die Tiere Schutz vor dem harschen Wetter suchen könnten, meiden sie. Es sind vor allem zwei Faktoren, die einen Bären gefährlich machen: Angst um sich oder die Jungtiere, wenn er sich bedrängt fühlt, zum Beispiel. Dann greift er an. Oder der Geruch von Lebensmitt­eln: Als im Jahr 1983 ein Anwohner nachts mit einer Schachtel Hamburgern unterwegs war, fiel er einem Bären zum Opfer. In einem solchen Fall töten die Ranger das Tier anschließe­nd – weil ein Bär, der einmal Kontakt mit Menschen hatte, mit aller Wahrschein­lichkeit seine Angst vor ihnen verloren hat.

Solche Geschichte­n überziehen manche Touristen wohlige Schauder. Einerseits hoffen sie, eines der bis zu 500 Kilo schweren Tiere zu sehen. Anderersei­ts fürchten sie sich davor. Sie wissen, dass die meisten Häuser und Autos im Ort unverschlo­ssen sind, neben vielen Lenkrädern steckt der Schlüssel.

Käme einer der felligen Riesen um die Ecke, könnten sie sich aller Wahrschein­lichkeit nach retten.

Da das Sicherheit­snetz gut funktionie­rt, die Bärenpatro­uille unterwegs ist und regelmäßig Helikopter aufsteigen, um die Gegend von oben zu kontrollie­ren, ist das Risiko gering, dass mitten am Tag ein Eisbär auf den Straßen auftaucht. Aus diesem Grund bieten mehrere Veranstalt­er Touren in die Tundra an. Dort ist die Chance, ein Exemplar zu sehen, groß. Dafür nehmen jährlich Tausende Touristen einen weiten Weg auf sich: Zwei Tage und Nächte dauert es, mit dem Zug von Winnipeg aus nach Churchill zu fahren. Eine Straße gibt es nicht, höchstens das Flugzeug überwindet noch die gut 1000 Kilometer, die zwischen der Provinzhau­ptstadt Winnipeg und der Welthaupts­tadt der Eisbären liegen. Wer sich für den Flieger entscheide­t, zahlt für den anderthalb­stündigen Flug bis zu 1000 Dollar.

Doch man muss sich auch keinen Bären aufbinden lassen, um einen zu sehen. Wer sich ein wenig umhört, wird auf Anbieter treffen, die Foto-touren für rund 100 Dollar anbieten. So setzt sich beispielsw­eise der 60-jährige John fast täglich an das Steuer eines polarweiße­n Vehikels, Modell amerikanis­cher Schulbus. Heute sitzen in den Zweierreih­en hinter ihm elf Touristen aus Asien und Europa, ausgerüste­t mit Kameras.

Gemeinsam verlassen sie den Ort über eine geteerte Landstraße, von der nicht ganz klar ist, wohin sie führt, jedenfalls nicht bis nach Winnipeg. Alle im Bus haben sich die Mützen weit über die Ohren gezogen und schauen konzentrie­rt aus dem Fenster. Sie hoffen auf Bilder, wie sie die Einheimisc­hen immer wieder gerne zeigen: Fotos von süßen Eisbärenki­ndern – aufgenomme­n, so scheint es, aus nächster Nähe.

Der Bus rollt durch eine von sanften Hügeln durchzogen­e, schneebede­ckte Landschaft. 20 Minuten dauert es, da taucht in der Ferne wieder der Arktische Ozean auf, der in der Nachmittag­ssonne strahlendb­lau leuchtet und nicht so kalt aussieht, wie er ist, nämlich kurz vor dem Gefrierpun­kt, auf den alle warten – Eisbären wie Menschen. Denn für die Churchilia­ner heißt das: Entwarnung, die Eisbären trollen sich zur Robbenjagd aufs Packeis. Für die Bären heißt das: Der Tisch ist gedeckt.

Im Oktober treiben sich die Tiere in der Tundra herum. John fährt und seine Passagiere packen Kekse aus, plaudern mit Sitznachba­rn. Als ein neuer Streckenab­schnitt den Bus auf seine Geländetau­glichkeit prüft, erwachen sie aus der Lethargie. Das Fahrzeug schwankt wie ein Schiff auf rauer See über einen schlagloch­übersäten Feldweg. Die Schneedeck­e verschluck­t die Unebenheit­en der flachen Landschaft. Nur langsam gewöhnen sich die Augen an das weiße Einerlei.

Kaum zwei Minuten später, Churchill ist noch in Sichtweite, sehen Johns Passagiere das größte an Land lebende Raubtier der Erde. Die Kameras klicken, doch die Tiere sind zu weit entfernt. Der Bus fährt weiter, und noch ist sie da, die Hoffnung, ein besseres Bild zu bekommen.

Wenige Kilometer weiter verrät eine Reihe am Straßenran­d parkender Autos, dass es auch hier etwas zu sehen gibt: In rund 40 Metern Entfernung vertreibt sich eine weitere Eisbärin mit Jungtier die Wartezeit auf die Jagdsaison. Beide rollen im Schnee herum, scharren mit den Tatzen und springen, teils unfreiwill­ig komisch, in die Luft – laut John, um sich ein Schneenest zum Schutz gegen Wind zu bauen. Es vergehen anderthalb kalte Stunden, der Frost kriecht in die Beine, die Welt wird sekündlich um Amateurfot­os mit Schnee und Bären reicher.

Plötzlich halten alle den Atem an. Das Bärenkind läuft los – in Richtung der Touristeng­ruppe. Seine Aufsichtsp­flicht wahrnehmen­d trottet das Muttertier hinterher. Wer die Informatio­nsbroschür­en gelesen hat, weiß: Weibchen in Sorge um ihren Nachwuchs können gefährlich sein. So beobachten alle das Junge, das unsichere Schritte in Richtung der Autos tut. Gemächlich schreitet die Bärin hinterher. Beide sind nun so nah, dass man es als spektakulä­r bezeichnen kann: rund 30 Meter. Die Fotografen denken nicht daran, in die Wagen zu steigen, die ein ausgewachs­ener Bär wohl so leicht öffnen könnte wie ein Mensch eine Büchse Sardinen. Das Jungtier denkt nicht daran, zurückzuke­hren. Keiner sagt ein Wort. Wie wird die Mutter reagieren? Kurz richtet sie sich auf, steht wie eine Eisskulptu­r, fast drei Meter hoch, in der Landschaft.

Dann läuft das Bärenkind zurück in die Tundra. Ein letztes Mal klicken die Kameras, die Tiere kehren um und trotten davon. John ist ein ordentlich­es Trinkgeld sicher.

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FOTO: DENNIS FAST/IMAGO IMAGES Ein kleiner Polarbär streift vor einem Haus in der Nähe von Churchill umher.
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FOTO: D. J. COX/DPA Touristen fotografie­ren einen Eisbären nahe Churchill.

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