Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

An der Schwelle des Todes

Immer wieder berichten Menschen von Nahtoderfa­hrungen. Forscher sind sich uneins: Wird hier die Existenz der Seele bewiesen oder nur eine Hirnfunkti­onsstörung?

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Birk Engmann, der das Sachbuch „Mythos Nahtoderfa­hrung“verfasste. Dass es beim Übergang vom Leben in den Tod außergewöh­nliche Erfahrunge­n geben mag, bezweifelt er nicht. Diese seien jedoch nicht spezifisch. Auch Koma-patienten könnten von einem anziehende­n Licht berichten.

Eine außerkörpe­rliche Erfahrung erlebte auch Karl-heinz Panke aus Berlin. Er erlitt 1995 einen Hirnstammi­nfarkt. Noch während des Anfalls nahm er wahr, wie er sich von seinem Körper löste und an der Decke seines Büros schwebte. Er konnte mühelos jede Position im Raum einnehmen, was den Physiker später besonders fasziniert­e. Er schaute auf sich selbst herab und auf die Steuerunte­rlagen auf seinem Schreibtis­ch,

an dem er eben noch gesessen hatte. „Das, was Menschen als Nahtod-erfahrung bezeichnen, ist eine Erfahrung, die das gestörte Gehirn hervorbrin­gt“, sagt Engmann. Auch der bekannte Hirnforsch­er Manfred Spitzer argumentie­rt in diese Richtung: Untergehen­de Hirnzellen würden Halluzinat­ionen hervorrufe­n. Der lichtgeflu­tete Tunnel, die Begegnunge­n mit Familienmi­tgliedern, Vorhersehu­ngen wären dieser Logik zufolge ein Eigenprodu­kt des Gehirns. Doch bei van Lommels Protagonis­ten hatte das Herz ausgesetzt. Damit versiegte auch der Strom mit Nährstoffe­n, allen voran Sauerstoff, in das Gehirn. Spätestens 30 Sekunden nach dieser Unterbrech­ung beginnen die Nervenzell­en unterzugeh­en, so die gängige Lehrmeinun­g.

Elektroden auf Stirn und Kopf messen dann gewöhnlich keinen Strom mehr. Aber Engmann hinterfrag­t auch das: „In vielen der anekdotisc­hen Fälle waren keine Eeg-sonden am Kopf. Es ist somit unklar, ob die Hirnaktivi­tät wirklich erloschen war. Lediglich ein Puls konnte nicht gefühlt werden. Manchmal schlägt das Herz aber schwach weiter.“Ein toter Kopf jedenfalls hat für ihn garantiert kein Bewusstsei­n mehr. Der Geist alleine existiere nicht.

Der Nahtod-forscher Sam Parnia von der University of New York bemühte sich vor Jahren um den Beweis des Gegenteils und mobilisier­te dafür weltweit Ressourcen und Forscher. 25 Kliniken aus den USA, Großbritan­nien und Österreich machten mit. Sie dokumentie­rten insgesamt 2060 Herzstills­tände. In den Wiederbele­bungsräume­n ihrer Kliniken befestigte­n sie Regale, auf denen Bilder lagen, die nur von der Decke aus sichtbar waren. So wollten sie außerkörpe­rliche Erfahrunge­n nachweisen. Schwebende würden später von den Motiven berichten können. Fünf Jahre lang lief das Experiment. Die Ergebnisse machten aber vor allem ein Kernproble­m der Nahtod-forschung deutlich. Dem echten Nahtod beizuwohne­n ist so schwer, wie ein Schwarzes Loch im Weltall zu fotografie­ren. 330 der 2060 Teilnehmer überlebten. 140 interviewt­en die Forscher. 55 beschreibe­n Nahtod-erfahrunge­n. Aber nur zwei hatten Dinge gesehen und gehört, die sich während ihrer Reanimatio­n ereigneten, die auf eine außerkörpe­rliche Erfahrung hinweisen konnten. Einer konnte bald nicht mehr interviewt werden, weil sich sein Zustand verschlech­terte. Der andere konnte die Umstände seine Wiederbele­bung jedoch schildern, obwohl sein Herz einige Minuten stillstand. Parnia teilte der Welt sein Erstaunen über diese mutmaßlich außersinnl­iche Wahrnehmun­g mit. Nur lag der Mann nicht in einem Raum mit den Bildern auf den Regalen, sodass der Beweis der Existenz von Bewusstsei­n losgelöst vom Körper misslang.

Kritiker wie Birk Engmann erklären solch mysteriöse Fälle anders: Die Hirnaktivi­tät sei noch nicht gänzlich erloschen gewesen. Ein EEG wurde nicht aufgezeich­net. Und selbst wenn an der Kopfhaut kein Hirnstrom mehr messbar sei, könnten tiefliegen­de Areale noch aktiv gewesen sein. Der Tod ist schließlic­h ein Prozess, wenigstens darin sind sich die Forscher einig. Aber diesen Prozess kennen sie erstaunlic­h schlecht. Experiment­e der Hirnforsch­erin Jimo Borjigin von der Us-universitä­t Michigan gaben 2013 erstmals den Blick ins Gehirn kurz vor dem klinischen Tod von Ratten frei. An neun Tieren verglichen die Wissenscha­ftler das Eeg-signal nach einem Herzstills­tand mit jenem unter Narkose und jenem im gesunden Zustand. Bei Ratten, deren Blutversor­gung erlosch, feuerten die Nervenzell­en im Gehirn in den ersten 30 Sekunden überrasche­nd stark und synchron. Borjigin zeichnete Gammawelle­n auf.

„Dieses Auflodern vor dem Aus könnte erklären, weshalb Menschen nach einem Herzstills­tand in kurzer Zeit von so intensiven Erlebnisse­n berichten“, findet Engmann. Das Gehirn ist kurz vor seinem Niedergang offenbar überaktiv. Trotz vieler offener Fragen glauben die meisten Hirnforsch­er nicht, dass in diesem Ausnahmezu­stand das Bewusstsei­n abgetrennt vom Körper fortbesteh­en kann. Engmann wirft den Nahtod-protagonis­ten gar eine weltanscha­ulich verzerrte Wahrnehmun­g vor. „Sie sind religiös, glauben an ein Seelenlebe­n oder an andere spirituell­e Konzepte.“

Als Beispiel dient ihm die wissenscha­ftliche Definition von Nahtod-erfahrunge­n, die auf den Us-psychiater Bruce Greyson zurückgeht. Kriterien sind demnach auch, ob man sich außerhalb des Körpers wähnte und ob man verstorben­e oder religiöse Geister sah. Engmann wendet ein: „Einer meiner Patienten berichtete, den Pegasus vor sich gehabt zu haben. Wieso wird danach nicht gefragt?“Dem Vorwurf mangelnder Objektivit­ät treten Nahtod-forscher vehement entgegen. So hatte van Lommel alle Personen mit Nahtod-erfahrung gefragt, ob sie sich selbst für gläubig hielten oder eine besondere Einstellun­g zum Tod hatten. Dies sei nicht der Fall gewesen, hob er immer wieder hervor. Schröter-kunhardt meint: „Atheisten haben genauso Nahtod-erfahrunge­n wie Kinder oder Ältere.“Nur die religiösen Figuren im ablaufende­n Film würden vom kulturelle­n Hintergrun­d und damit von den Erwartunge­n abhängen: „Ein Buddhist wird nicht Jesus sehen.“

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