Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Polizisten: Nicht sofort Polizei rufen
Nicht nur die Gewerkschaft ruft zu mehr mehr Eigenverantwortung auf.
BERLIN Nach Ansicht des Vizechefs der Gewerkschaft der Polizei, Jörg Radek, kann jeder Kneipenwirt selbst ein Verbot aussprechen, wenn sich ein Gast nicht an die Sperrstunden hält oder die Corona-liste nicht korrekt ausfüllt. Er müsse nicht sofort die Polizei rufen. „Ich vermisse hier mehr Eigenverantwortung“, sagte Radek unserer Redaktion. Er wünsche sich, dass die Eigenverantwortung auch dadurch steige, indem sich jeder zurücknehme und sich an die Auflagen halte. „Ich hoffe zudem, dass es die Verwaltung schafft, widerspruchsfreie Auflagen zu formulieren – sonst wird die Arbeit der Polizei unnötig erschwert.“
Für die Polizisten habe Corona eine neue Berufserfahrung mit sich gebracht. Bislang sei auch die längste polizeiliche Großlage, wie etwa der Atommüll-transport in Castor-behältern, nach vier Wochen beendet gewesen. „Jetzt haben wir eine polizeiliche Großlage, die schon seit
März andauert, wo die Polizei seit dem ersten Tag in einem besonderen Maße gefordert ist“, stellte der Gewerkschafter fest.
Aus diesem Grund erneuerte die GDP die Forderung, den für Anfang November beabsichtigten Castor-transport zu verschieben. Die Absage im März sei begründet worden mit dem Infektionsschutz für die eingesetzten Kräfte. „Im Verhältnis zum März sind die Infektionszahlen um ein Vielfaches höher, und trotzdem soll der Transport jetzt nachgeholt werden“, kritisierte Radek. Bei seinen Kollegen stoße das auf Unverständnis. Ihre Gesundheit sei wichtiger als eine zusätzliche Großlage mit Tausenden von Einsatzkräften.
Auch das Land Berlin wünscht sich von seinen Bürgern mehr Eigenverantwortung – auch mit Blick auf die Nachverfolgung möglicher Infektionsketten. Angesichts der Vielzahl von neuen Fällen hatte Berlins Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) eine neue Strategie bei der Isolation von Corona-erkrankten
und der Nachverfolgung ihrer Kontakte angekündigt. Es sei den Gesundheitsämtern nicht mehr möglich, jeden einzelnen Fall mit viel Aufwand und sehr zügig zu bearbeiten. Deshalb sollten die Betroffenen das in die eigene Hand nehmen.
Das stößt bei Patientenschützern auf Kritik. „Es ist an der Zeit, dass sich jetzt der Bundestag mit diesem geplanten ethischen Paradigmenwechsel beschäftigt“, sagte der Vorsitzende der Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, unserer Redaktion. Er kritisierte, dass in ersten Städten wie Berlin die Gesundheitsämter vor der Corona-welle kapitulierten. „Es ist nicht zu fassen“, sagte Brysch. Eindringlich hätten die Experten auch des öffentlichen Gesundheitsdienstes wiederholt, dass die Einzelfall-nachverfolgung unverzichtbar sei. „Mit diesem Richtungswechsel entgleitet Deutschland die Pandemiebekämpfung“, sagte Brysch. Mehr als sechs Millionen Menschen der Hochrisikogruppen lebten verstreut im ganzen Land.