Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Ein Haudegen der Sozialdemokratie
Am Berg machte ihm keiner etwas vor. Thomas Oppermann wanderte wie selbstverständlich vorweg. Atemberaubendes Tempo, die Teilnehmer eines Sommerausflugs kamen kaum hinterher. Die verschiedenen Routen hinauf zum Brocken kannte er auswendig, er liebte die Aussicht von diesem historisch so bedeutsamen Gipfel im Harz. Die deutsche Teilung und Wiedervereinigung war für den Mann aus Südniedersachsen, wo die Grenze sehr nah war, eine prägende Erfahrung. Bis zuletzt war der 66-Jährige fit, stand mitten im Leben. Am Sonntag brach er bei Dreharbeiten für die Zdf-sendung „Berlin direkt“zusammen – nach Angaben des Senders kurz bevor er live in die Sendung geschaltet werden sollte. Er sei in die Uniklinik Göttingen gebracht worden und dort gestorben, hieß es. Mit ihm verliert Deutschland einen herausragenden Demokraten, einen kämpferischen Sozialdemokraten. Nicht nur für seine Angehörigen und Freunde ist sein überraschender Tod ein Schock – auch für seine Partei. Bevor er eine politische Karriere begann, war Oppermann
Der Vizepräsident des Bundestags ist im Alter von 66 Jahren gestorben. Die SPD hat mit ihm einen Ausnahmepolitiker verloren. Geradlinig, streitbar, humorvoll.
Richter in Hannover und Braunschweig. Als erstes Kind eines Molkereimeisters machte er 1975 in Einbeck bei Göttingen Abitur. Oppermann verweigerte den Wehrdienst und ging stattdessen in die USA, um dort für die Organisation „Aktion Sühnezeichen Friedensdienste“zu arbeiten. Seitdem
war er überzeugter Transatlantiker, ein Kenner und kritischer Freund der Vereinigten Staaten. Seine Tätigkeit als Richter beendete er für ein Abgeordnetenmandat im niedersächsischen Landtag, Oppermann stieg schnell auf: Rechtspolitischer Sprecher, später Kultusminister unter Ministerpräsident Gerhard Schröder. Oppermann zog 2005 erstmals in den Bundestag ein und gewann seitdem seinen Wahlkreis Göttingen immer direkt. In der Bundespolitik konnte er sein Talent des scharfzüngigen Redners voll ausspielen. Kaum ein anderer Politiker vermochte es so geschickt, komplizierte Sachverhalte auf den Punkt zu bringen, dabei druckreif zu formulieren. Oppermann machte sich von 2007 bis 2013 als Vorsitzender des Parlamentarischen Kontrollgremiums einen Namen als Innenpolitiker. In den Koalitionsverhandlungen 2013 buhlte er offen um den Posten des Bundesinnenministers – sein politischer Traum. Zum Zug kam er jedoch nicht, denn mit dem damaligen SPD-CHEF Sigmar Gabriel als Vizekanzler und Wirtschaftsminister saß bereits ein männlicher Sozialdemokrat aus Niedersachsen am Kabinettstisch. Gabriel wollte Oppermann an die Spitze der Fraktion setzen, doch mit dieser Rolle haderte er zunächst. Plötzlich konnte er nicht mehr der scharfzüngige Angreifer sein. In Oppositionszeiten hatte er sich als Parlamentarischer Geschäftsführer seiner Fraktion mit spitzen Angriffen noch gegen die schwarz-gelbe Regierung fast zum Generalsekretär aufgeschwungen. Als Fraktionschef in einer Großen Koalition musste er nun jedoch moderieren statt zu attackieren. Sein taktisches Gespür musste nun vor allem im Fraktionssaal funktionieren, um hitzige Debatten und negative Schlagzeilen zu vermeiden. Vielen aus dem linken Lager der SPD galt er als machtbewusster, kühler Manager ohne ausgeprägte Empathie. Zugleich war auf ihn Verlass, Oppermann lieferte zuverlässig.
Den Tiefpunkt seiner Karriere erlebte er während der Affäre um Sebastian Edathy. Monatelang war Oppermanns politisches Schicksal unklar, Gerüchte über Verstrickungen in die Affäre machten die Runde, er musste sich vor einem
Untersuchungsausschuss rechtfertigen. Am Ende wurde ihm nichts nachgewiesen. Erst nach seinem Wechsel ins Bundestagspräsidium 2017 konnte er wieder freier aufspielen und füllte das Amt des Bundestagsvizepräsidenten voll aus. Er trieb die eigene Fraktion an, als es etwa um eine Wahlrechtsreform ging. Intern wie öffentlich war Oppermann ein scharfer Kritiker fauler Kompromisse bei dem Thema. Der passionierte Fußballspieler und Fan des Basketballteams BG Göttingen wollte bei der nächsten Bundestagswahl etwas Neues beginnen. Im August hatte er angekündigt: „Nach 30 Jahren als Abgeordneter im Niedersächsischen Landtag und im Deutschen Bundestag ist für mich jetzt der richtige Zeitpunkt, noch einmal etwas anderes zu machen und mir neue Projekte vorzunehmen.“Was genau er machen wollte, schrieb er nicht. Oppermann hinterlässt zwei Töchter aus einer früheren Ehe sowie eine Tochter und einen Sohn aus seiner heutigen Partnerschaft. Thomas Oppermann wird fehlen. Jan Drebes