Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Unverhältnismäßig, also falsch
MEINUNG Bund und Länder verschärfen die Maßnahmen gegen Corona drastisch: Gastronomische Betriebe sowie Kultur- und Sportstätten sollen vorerst komplett geschlossen werden. Warum sich das trotz der hohen Infektionszahlen nicht rechtfertigen lässt.
Von einem „Lockdown light“war vor den Corona-beratungen der Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidenten die Rede. Aber die Beschlüsse sind alles andere als leicht. Erneut sollen von Montag an gastronomische Betriebe sowie Kulturund Sportstätten geschlossen werden. Dabei sind es diese Einrichtungen, die überwiegend umsichtig und konsequent auf die Einhaltung des Abstands- und Hygienegebots geachtet haben. Größere Infektionsherde sind hier kaum gemeldet worden, vor allem gehen sie auf private Feiern, geselliges Beisammensein und Großhochzeiten zurück. Der Ernst der Lage ist nicht zu bestreiten. Aber es ist weder fair noch angemessen, für punktuelles Fehlverhalten im privaten Raum das öffentliche Leben für mindestens vier Wochen derart einzuschränken.
Denn im deutschen Recht dreht sich alles um den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der eine Leitlinie staatlichen Handelns sein sollte. Sind die zu treffenden Maßnahmen angemessen, um das gesetzte Ziel zu erreichen? Bund und Länder meinen, dass dieser Grundsatz erfüllt ist. Die Maßnahmen seien „notwendig“und „mit Blick auf das zu schützende Rechtsgut der Gesundheit der Bevölkerung und zur Abwendung noch umfangreicherer wirtschaftlicher Schäden im Falle einer unkontrollierten pandemischen Entwicklung verhältnismäßig“.
Das möchte man doch etwas genauer wissen. Was wolkig mit „Gesundheit der Bevölkerung“bezeichnet wird, heißt konkret: Bund und Länder möchten die exponentiell steigenden Infektionszahlen in den Griff bekommen, um schwere Krankheitsverläufe und Todesfälle einzudämmen. Aber ob sich das mit diesen Einschränkungen des öffentlichen Lebens tatsächlich erreichen lässt, ist durchaus fraglich. Die Dunkelziffer – zitiert wurde die Rki-angabe, wonach bei mehr als 75 Prozent der Infektionen die Umstände der Ansteckung unklar sind – belegt das jedenfalls nicht. Auch lindert das Hilfspaket, das zusätzlich zehn
Milliarden Euro für die betroffenen Einrichtungen bereitstellen soll, zwar den wirtschaftlichen Schaden, aber verhältnismäßig werden die Maßnahmen deswegen nicht.
Richtig und angemessen sind die neuen Kontaktbeschränkungen im privaten Raum, die dann aber wirksam kontrolliert werden müssen.
Denn die Menschen, die sich schon über die bisherigen Corona-regeln hinweggesetzt haben, werden das im Zweifel weiter tun, allen Verschärfungen zum Trotz. Richtig ist auch, die Arbeitgeber stärker in die Pflicht zu nehmen, für Prävention zu sorgen. Und richtig ist, die „vulnerablen Gruppen“in Krankenhäusern und Pflegeheimen besser zu schützen. Schnelltests sollen vorerst vor allem besonders gefährdeten Menschen zugute kommen – gut so!
Erstmals wird ein weiteres Ziel definiert: dass „in der Weihnachtszeit keine weitreichenden Beschränkungen im Hinblick auf persönliche Kontakte und wirtschaftliche Tätigkeit erforderlich sind“. Mit Blick auf dieses Ziel dürfte allerdings auch das sogenannte Übermaßverbot zu beachten sein. Denn so schön und bedeutsam Weihnachten ist: Jetzt in großem Stil zu verzichten, um an einem Abend in zwei Monaten zu schwelgen, lässt sich nicht allen vermitteln. Und da es gerade die privaten Feste sind, bei denen sich Menschen häufig infizieren, ist es auch politisch das falsche Signal.
Am Anfang der Pandemie bemühten manche Politiker gern die Rhetorik eines Krieges. Jetzt wird, um in jenen zweifelhaften Sprachbildern zu bleiben, das öffentliche Leben einem Flächenbombardement ausgesetzt, wo eigentlich präzise Luftschläge geboten wären. Die Bewältigung der Pandemie steht und fällt mit der Eigenverantwortung der Menschen und mit einer möglichst exakten Rückverfolgung der Infektionsketten. Wenn „bereits in zahlreichen Gesundheitsämtern eine vollständige Kontaktnachverfolgung nicht mehr gewährleistet werden kann“, wie in den Beschlüssen stark untertreibend festgehalten wird, dann gilt es, vor allem dort mit wirklich allen Mitteln anzusetzen.
Angela Merkel sagt zu Recht, es müsse jetzt etwas getan werden – aber es muss das Richtige sein. Hinzu kommt: Eine Verlängerung der Maßnahmen in den Dezember hinein lässt sich nicht ausschließen – als Kriterium soll gelten, ob der Inzidenzwert wieder unter 50 Neuinfektionen pro 100.000 Menschen binnen sieben Tagen sinkt.