Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Löws Problemzonen
Vor den letzten drei Länderspielen des Jahres hakt es in der Fußball-nationalmannschaft vor allen Dingen im Abwehrverhalten.
LEIPZIG Es hat schon prominenter besetzte Dfb-aufgebote gegeben. Üppig ist vor den letzten drei Länderspielen des denkwürdigen Jahres 2020 allein die Liste der Absagen. Es fehlen Joshua Kimmich, Thilo Kehrer, Marcel Halstenberg, Julian Draxler, Kai Havertz, Suat Serdar, Emre Can und Niklas Süle. Deshalb rücken bislang ungekrönte Häupter wie Ridle Baku (Wolfsburg), Philipp Max (PSV Eindhoven) und Felix Uduokhai (Augsburg) nach.
Vor allem im Testspiel gegen die Tschechen am Mittwoch in Leipzig (20.45 UHR/RTL) wird eine nicht so namhafte Truppe auf dem Platz stehen, weil Bundestrainer Joachim Löw den in der Champions League gestressten Stars eine Pause einräumt. Sie kommen erst in den Nations League-begegnungen mit der Ukraine (ebenfalls Leipzig, Samstag, 20.45 UHR/ZDF) und Spanien (Dienstag, Sevilla, 20.45 UHR/ARD) zum Zug. Beim ersten Training standen acht Mann auf dem Platz. Ob es Löw unter solchen Bedingungen gelingt, entscheidende Schritte bei der Bewältigung seiner Probleme zu tun, ist zumindest fraglich. Wo die Probleme liegen, steht dagegen fest. Wir nennen die wichtigsten.
Abwehr(-verhalten). Fünf Spiele hat Löws Team im Corona-jahr gespielt, ohne Gegentor blieb es nie. Besonders freundlich war die Abteilung Defensive in den Begegnungen mit der Türkei und der Schweiz. Jeweils drei Gegentore gestatteten die Deutschen ihren Kontrahenten, beide Partien endeten mit 3:3 und der Frage: Wie kann es sein, dass das Abwehrdrittel des Weltmeisters von 2014 zum Selbstbedienungsladen geworden ist?
Dafür gibt es zwei Erklärungen. Die erste lautet: Am Abwehrspiel sind nicht nur die armen Teufel in der letzten Reihe beteiligt, die nach kleinen Schützenfesten immer heftig ausgeschimpft werden. Das Abwehrverhalten ist eine Aufgabe für das Kollektiv, die gesamte Mannschaft muss sich beteiligen. Löw gibt dem engen Terminkalender die Schuld. Der verhindere ausgiebige Trainingszeiten und damit die „Möglichkeit, Automatismen einzuüben“. Nicht falsch, aber nicht die ganze Wahrheit. Denn Löw unterschlägt, dass er vor und während der Spieler durchaus Einfluss nehmen könnte.
Die zweite Erklärung führt zum eigentlichen Abwehrpersonal. Da tummeln sich Spieler, die in den eigenen Vereinen auf der Bank sitzen (Antonio Rüdiger), die dem Anspruch,
internationale Spitzenklasse zu bieten, aus unterschiedlichen Gründen noch nicht gerecht wurden (Niklas Süle) oder die nicht einmal gelernte Innenverteidiger sind (Emre Can). Dass Süle und Can an der Dreierserie am Jahresende nicht mitwirken können, ist dabei ohne Bedeutung. Löw ist beharrlich genug (manche würden sagen stur genug), keinen Gedanken an die Rückkehr der Weltmeister Mats Hummels und Jerome Boateng zu verschwenden.
Die Systemfrage. Noch hat Löw nicht entschieden, ob er auf die international inzwischen flächendeckend betriebene Dreier- oder auf eine Viererkette setzen soll. Zuletzt gab es mal wieder die Rückkehr zur Viererkette. Das hat vor allem dem Gegner Schweiz gefallen, weil sie ihm reichlich Entfaltungsräume gestattete. Auch hier geht Löws Klage, es fehle die Zeit, Automatismen einzuspielen, ins Leere. Wenn er eine Idee für die defensive Ordnung hat, dann muss er sie durchziehen. Im Verzicht auf Hummels, Boateng (und Thomas Müller) ist er ja auch konsequent.
Die Außenverteidiger. Das Land von Philipp Lahm und Andreas Brehme hat keine Außenverteidiger oder defensive Außenspieler von Weltklasse mehr. An diesem Befund kommt niemand vorbei. Die brav ackernden Leipziger Lukas Klostermann und Marcel Halstenberg sind keine Lösung auf höchstem Niveau, Thilo Kehrer, Robin Gosens und Nico Schulz auch nicht – zumindest bis jetzt nicht. Der beste Außenverteidiger ist Joshua Kimmich. Aber den braucht der Coach im Mittelfeld. Beklagenswert ist an dieser Situation vor allem die Tatsache, dass es nicht einmal ausgemusterte Weltmeister von 2014 auf dieser Position gibt, die mit ihren Leistungen öffentlichen Druck erzeugen könnten.
Die Mentalität. Es gibt die sogenannten „Mentalitätsmonster“wie Kimmich. Der kann eine führende Rolle spielen und dafür sorgen, dass es nicht zu gemütlich wird auf dem
Platz oder im Team. Allerdings jetzt erst einmal nicht. Der Münchner hat sich am Knie verletzt und wird wohl in diesem Jahr nicht mehr spielen. In seiner Bundesligamannschaft steht ein weiteres Mentalitätsmonster. Thomas Müller ist ein entscheidender Faktor bei Bayern Münchens unaufhörlicher Titeljagd. Bei seinem Trainer Hansi Flick ist er in die Weltklasse zurückgekehrt, auch weil er so ein mitreißender Typ ist. Aber er spielt bei Löw (siehe oben) ebenfalls keine Rolle mehr.
Das ist ein Jammer, vor allem, wenn man Löws eigenen Anspruch zugrundelegt, der möglichst bis zur EM im kommenden Sommer erfüllt sein soll: „Es geht ums allerhöchste Level, wenn man an die Weltspitze zurückkehren möchte.“Einstweilen gibt der Bundestrainer bescheidenere Ziele an. „Wir haben die Chance“, erklärt er, „mit guten und erfolgreichen Spielen ein sportliches Ausrufezeichen zum Abschluss dieses schweren Jahres zu setzen.“Und: „Wir spielen auf Sieg.“Dann ist’s ja gut.