Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Wisslers Wahrheit: Ohne Utopie kein Fortschritt
Die 39-Jährige wäre ohne Corona-krise wahrscheinlich schon neue Linksparteichefin. Eine Hoffnungsträgerin mit harten Ansagen – in der Warteschleife.
BERLIN (kd) So fühlt sich eine Vollbremsung in der Politik an. Du ringst dich durch, für den Parteivorsitz zu kandidieren, bist trotz Bedenken bereit, zur gläsernen Person zu werden, bringst einen Wahlkampf ohne Gegenwehr zustande und hast den Koffer für die nächste Woche in Berlin am Sitz der Zentrale schon gepackt. Und dann wird die Wahl abgesagt. Der Linken-parteitag mit fast 600 Delegierten plus Gästen in Erfurt Ende Oktober wäre in Corona-zeiten zu gefährlich gewesen. Es gebe wirklich Schlimmeres als eine verschobene Wahl, sagt Janine Wissler. Aber es sei eben „wie eine Vollbremsung“.
Wissler ist 39 Jahre alt, Linksfraktionschefin in Hessen und Bundesvizevorsitzende.
Die Hoffnung in der Partei ist groß, dass sie gemeinsam mit Susanne Hennig-wellsow (43) aus Thüringen die erste weibliche Doppelspitze der Linken bilden – und tiefe Risse quer durch die Partei vor der Bundestagswahl 2021 kitten wird. So verschieden sie sind, so sehr ergänzen sich die beiden Frauen – die eine Wessi und leidenschaftliche Oppositionspolitikerin mit einer Vergangenheit bei Marxisten, die andere realpolitische Ossi in seltener Doppelfunktion der Linkspartei- und Fraktionschefin in Thüringen mit dem Ziel der Regierungsbeteiligung ihrer Partei auch im Bund. Sie kämen aber sehr gut miteinander klar, sagt Wissler. Der neue Vorstand soll nun im Februar auf einem dezentralen Bundesparteitag gewählt werden. Unter prominenten Linkenpolitikern, heißt es, Wissler überzeuge mit analytischer Argumentationsweise und prägnanten Reden. In jeder Talkshow mache sie Punkte für die Partei. Nur ihre „Nähe zu den Trotzkisten“störe viele. Wissler muss schmunzeln, als sie das hört. Sie betont: „Ich habe meine Mitgliedschaft bei Marx 21 beendet. Und bin aus der Sozialistischen Linken und aus der Bewegungslinken ausgetreten. Ich bin in gar keiner Strömung mehr.“Sie erinnert auch daran, dass die Linke in Hessen 2009 die Spd-politikerin Andrea Ypsilanti mit zur Ministerpräsidentin einer von den Linken tolerierten rot-grünen Minderheitsregierung
wählen wollte. „Da kann man mir nicht vorhalten, dass ich Regierungsbeteiligungen generell ablehne. Aber alles habe seine Grenzen. „Unser Nein zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr dürfen wir für die Beteiligung an einer Bundesregierung aber nicht aufgeben. Die Nato ist keine friedenspolitische Kraft.“
Das Nato-ziel, Verteidigungsausgaben auf zwei Prozent des Brutto-inlandsprodukts zu erhöhen, sei „völlig wahnsinnig“. Wissler: „Unsere Schulen verrotten, Menschen finden keine Wohnung, wir zerstören das Klima und kaufen Waffen und stecken das Geld in Aufrüstung.“Waffenexporte müssten sofort gestoppt werden. Die Geschichte der Menschheit sei im Übrigen nur durch mutige Menschen vorangekommen. „Sonst hätte es kein Frauenwahlrecht gegeben, wir würden nicht aus der Atomenergie aussteigen und auch nicht aus der Kohleenergie. Ohne Utopien geht es nicht.
Nur Co2-steuer und Dosenpfand reichen nicht.“Die Linke müsse „grundsätzliche Veränderung“fordern. Ihre eigenen Ziele seien, die Gefahr von Rechts und Rassismus zu bekämpfen, eine Steuerreform, die Reichtum umverteile, mehr Bildung und weniger Bundeswehr und ein sozial-ökologischer Umbau der Gesellschaft, die solidarisch sei und niemanden ökonomisch ausbeute.
Mit 39 Jahren vielleicht bald Parteichefin? Gehörte das zu ihrer Lebensplanung? Wissler lacht. Sie plane ihr Leben nicht am Reißbrett. Und außerdem: Wenn ihr jemand vor 20 Jahren die Kandidatur vorausgesagt hätte, hätte sie gefragt, für welche Partei denn? „Die Linke gab es damals ja noch gar nicht.“