Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Strukturwandel ist eine Jahrhundertaufgabe
Der Braunkohletagebau im Rheinischen Revier reicht bis ins frühe 20. Jahrhundert zurück und hat die Industrie im Rhein-Kreis Neuss maßgeblich geprägt. Noch ehe der Kohleausstieg im Jahr 2038 endgültig vollzogen ist, muss sich der Wirtschaftsstandort neu definieren.
Es ist ein Bild, das wohl jedem im Rhein-Kreis Neuss bekannt ist: Gigantische Braunkohlebagger fördern im Tagebau Garzweiler die wichtige Ressource für unsere Stromversorgung, die in den nahe gelegenen Kraftwerken in Energie umgewandelt wird. Im Jahr 2038 werden die letzten Braunkohlekraftwerke im Rheinischen Revier abgeschaltet. Aber nicht erst dann kann man sich Gedanken über die Zukunft der Energieversorgung in der Region, über die Zukunft der Tagebauflächen und die Auswirkungen auf den Wirtschaftsstandort machen. Und bei aller guten Vorbereitung wird dieser tiefgreifende Strukturwandel im Jahr 2038 natürlich auch nicht abgeschlossen sein.
Es ist es deshalb durchaus berechtigt, hier von einer Jahrhundertaufgabe für den gesamten Rhein-Kreis Neuss zu sprechen. „Noch nie haben wir in Friedenszeiten – von der Corona-Pandemie einmal abgesehen – vor so einer großen Aufgabe gestanden“, stimmt Landrat Hans-Jürgen Petrauschke dem zu. Der Strukturwandel wird noch Jahrzehnte nach dem Ende des Kohletagebaus in Anspruch nehmen. „Allein die geplanten Rest-Seen und deren Befüllung wird sich über Jahrzehnte erstrecken und bis ans Ende des Jahrhunderts reichen“, so Petrauschke. Hiervon am stärksten betroffen ist die Stadt Jüchen, wo ganze Ortschaften dem fortschreitenden Tagebau weichen mussten. Auf den dann rekultivierten Flächen sollen insbesondere Grünbereiche zur Naherholung die Standortgunst Jüchens ausbauen.
In der eigenen Strukturwandelstrategie hat die Stadt fünf Leitziele formuliert: Jüchen als Wohnort weiterbauen, das Wirtschaftspotenzial stärken und ausbauen, Jüchen zur umweltund klimagerechten Stadt entwickeln, eine zukunftsorientierte Mobilität gestalten und die interkommunale Zusammenarbeit nutzen. Letztere wird wohl eine der ersten sichtbaren Maßnahmen für einen gelingenden Strukturwandel auf den Weg bringen: Gemeinsam mit der Stadt Grevenbroich und der RWE Power AG wird man an der A 540 den Industriepark Elsbachtal auf einer Gesamtfläche von rund 42 Hektar entwickeln. Hier sollen Arbeitsplätze geschaffen werden, die durch den Ausstieg aus dem Braunkohleabbau verloren gehen. Bereits im Bau ist der Windpark Jüchen an der A 44n, an dem die Stadt Jüchen als Gesellschafter beteiligt ist. Damit wolle man einen Beitrag leisten, um neue Energielandschaften in der Region zu etablieren, heißt es aus dem Rathaus.
Auch im Kreishaus sind verschiedene Projekte angestoßen und Konzepte formuliert
Hans-Jürgen Petrauschke Landrat worden. Im Mai 2020 fand ein Workshop zur Entwicklung des industriell-gewerblichen Standorts zwischen den Ortslagen Frimmersdorf, Neuenhausen und Gustorf/Gindorf zusammen mit der Stadt Grevenbroich und RWE statt. Ein weiterer Workshop in größere Runde ist in Vorbereitung. Für die Vision „ALU-Valley 4.0“sollen Ende Februar Fördermittel beantragt werden. Kern des Projekts ist es, eine langfristige Generierung von Investitionen in ein für Nordrhein-Westfalen neuartiges Innovationsund Anwendungszentrum zu erzielen und somit Forschungs- und Industriearbeitsplätze in der Region zu sichern. Ebenfalls im Februar abgeschlossen werden soll unter dem Titel „Campus Changeneering“eine regionalökonomische Analyse des Standorts Rhein-Kreis Neuss bezogen auf die Branchen Chemie, Metall und Gesundheitswesen im Kontext des Strukturwandels. „Die Projekte sind zum Teil schon weit fortgeschritten. Die Umsetzung erster Maßnahmen wird noch in diesem Jahr erfolgen“, kündigt Landrat Petrauschke an.
Wie weitreichend sich der Kohleausstieg auf den hiesigen Wirtschaftsstandort auswirkt, macht auch eine Formulierung im „Stärkungsgesetz Kohleregion“des Bundes deutlich: Hierin wird der gesamte Rhein-Kreis Neuss explizit als Strukturwandelgebiet definiert. So hat die Nähe zu Tagebau und Kraftwerken dazu geführt, dass sich zahlreiche energieintensive Industrien und Branchen wie die Aluminiumerzeugung, Chemie und Lebensmittelwirtschaft mit großen Unternehmen unter anderem in Neuss und Dormagen angesiedelt haben. Auch die Gemeinde Rommerskirchen als ehemals geplanter Kraftwerkserweiterungsstandort
zählt zu den unmittelbar betroffenen Anrainern. Und zu guter Letzt finden sich in allen Kommunen des Kreises Firmen und Handwerksbetriebe, die auch an der nahe gelegenen Energieproduktion wirtschaftlich partizipieren.
In der Kommunalpolitik hat der Kreistag nach der Kommunalwahl 2020 den Ausschuss für Strukturwandel und Arbeit neu eingerichtet. Auch in Grevenbroich wurde ein Ausschuss für Strukturwandel, Arbeit, Digitalisierung und Innovationen neu geschaffen. In Jüchen arbeitet bereits seit 2019 ein dafür eigens eingerichteter Ausschuss.
Darüber hinaus ist Jüchen im Zweckverband Landfolge
Garzweiler vertreten und bildet zusammen mit Grevenbroich, Rommerskirchen und weiteren Anrainerkommunen den Planungsverbund „Rheinisches Sixpack“. Der Rhein-Kreis Neuss bringt seine Stimme unter anderem im Regionalrat Düsseldorf und in der Zukunftsagentur Rheinisches Revier ein.
„Noch nie haben wir in Friedenszeiten vor so einer großen Aufgabe gestanden.“