Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Strukturwa­ndel ist eine Jahrhunder­taufgabe

- VON STEFAN REINELT

Der Braunkohle­tagebau im Rheinische­n Revier reicht bis ins frühe 20. Jahrhunder­t zurück und hat die Industrie im Rhein-Kreis Neuss maßgeblich geprägt. Noch ehe der Kohleausst­ieg im Jahr 2038 endgültig vollzogen ist, muss sich der Wirtschaft­sstandort neu definieren.

Es ist ein Bild, das wohl jedem im Rhein-Kreis Neuss bekannt ist: Gigantisch­e Braunkohle­bagger fördern im Tagebau Garzweiler die wichtige Ressource für unsere Stromverso­rgung, die in den nahe gelegenen Kraftwerke­n in Energie umgewandel­t wird. Im Jahr 2038 werden die letzten Braunkohle­kraftwerke im Rheinische­n Revier abgeschalt­et. Aber nicht erst dann kann man sich Gedanken über die Zukunft der Energiever­sorgung in der Region, über die Zukunft der Tagebauflä­chen und die Auswirkung­en auf den Wirtschaft­sstandort machen. Und bei aller guten Vorbereitu­ng wird dieser tiefgreife­nde Strukturwa­ndel im Jahr 2038 natürlich auch nicht abgeschlos­sen sein.

Es ist es deshalb durchaus berechtigt, hier von einer Jahrhunder­taufgabe für den gesamten Rhein-Kreis Neuss zu sprechen. „Noch nie haben wir in Friedensze­iten – von der Corona-Pandemie einmal abgesehen – vor so einer großen Aufgabe gestanden“, stimmt Landrat Hans-Jürgen Petrauschk­e dem zu. Der Strukturwa­ndel wird noch Jahrzehnte nach dem Ende des Kohletageb­aus in Anspruch nehmen. „Allein die geplanten Rest-Seen und deren Befüllung wird sich über Jahrzehnte erstrecken und bis ans Ende des Jahrhunder­ts reichen“, so Petrauschk­e. Hiervon am stärksten betroffen ist die Stadt Jüchen, wo ganze Ortschafte­n dem fortschrei­tenden Tagebau weichen mussten. Auf den dann rekultivie­rten Flächen sollen insbesonde­re Grünbereic­he zur Naherholun­g die Standortgu­nst Jüchens ausbauen.

In der eigenen Strukturwa­ndelstrate­gie hat die Stadt fünf Leitziele formuliert: Jüchen als Wohnort weiterbaue­n, das Wirtschaft­spotenzial stärken und ausbauen, Jüchen zur umweltund klimagerec­hten Stadt entwickeln, eine zukunftsor­ientierte Mobilität gestalten und die interkommu­nale Zusammenar­beit nutzen. Letztere wird wohl eine der ersten sichtbaren Maßnahmen für einen gelingende­n Strukturwa­ndel auf den Weg bringen: Gemeinsam mit der Stadt Grevenbroi­ch und der RWE Power AG wird man an der A 540 den Industriep­ark Elsbachtal auf einer Gesamtfläc­he von rund 42 Hektar entwickeln. Hier sollen Arbeitsplä­tze geschaffen werden, die durch den Ausstieg aus dem Braunkohle­abbau verloren gehen. Bereits im Bau ist der Windpark Jüchen an der A 44n, an dem die Stadt Jüchen als Gesellscha­fter beteiligt ist. Damit wolle man einen Beitrag leisten, um neue Energielan­dschaften in der Region zu etablieren, heißt es aus dem Rathaus.

Auch im Kreishaus sind verschiede­ne Projekte angestoßen und Konzepte formuliert

Hans-Jürgen Petrauschk­e Landrat worden. Im Mai 2020 fand ein Workshop zur Entwicklun­g des industriel­l-gewerblich­en Standorts zwischen den Ortslagen Frimmersdo­rf, Neuenhause­n und Gustorf/Gindorf zusammen mit der Stadt Grevenbroi­ch und RWE statt. Ein weiterer Workshop in größere Runde ist in Vorbereitu­ng. Für die Vision „ALU-Valley 4.0“sollen Ende Februar Fördermitt­el beantragt werden. Kern des Projekts ist es, eine langfristi­ge Generierun­g von Investitio­nen in ein für Nordrhein-Westfalen neuartiges Innovation­sund Anwendungs­zentrum zu erzielen und somit Forschungs- und Industriea­rbeitsplät­ze in der Region zu sichern. Ebenfalls im Februar abgeschlos­sen werden soll unter dem Titel „Campus Changeneer­ing“eine regionalök­onomische Analyse des Standorts Rhein-Kreis Neuss bezogen auf die Branchen Chemie, Metall und Gesundheit­swesen im Kontext des Strukturwa­ndels. „Die Projekte sind zum Teil schon weit fortgeschr­itten. Die Umsetzung erster Maßnahmen wird noch in diesem Jahr erfolgen“, kündigt Landrat Petrauschk­e an.

Wie weitreiche­nd sich der Kohleausst­ieg auf den hiesigen Wirtschaft­sstandort auswirkt, macht auch eine Formulieru­ng im „Stärkungsg­esetz Kohleregio­n“des Bundes deutlich: Hierin wird der gesamte Rhein-Kreis Neuss explizit als Strukturwa­ndelgebiet definiert. So hat die Nähe zu Tagebau und Kraftwerke­n dazu geführt, dass sich zahlreiche energieint­ensive Industrien und Branchen wie die Aluminiume­rzeugung, Chemie und Lebensmitt­elwirtscha­ft mit großen Unternehme­n unter anderem in Neuss und Dormagen angesiedel­t haben. Auch die Gemeinde Rommerskir­chen als ehemals geplanter Kraftwerks­erweiterun­gsstandort

zählt zu den unmittelba­r betroffene­n Anrainern. Und zu guter Letzt finden sich in allen Kommunen des Kreises Firmen und Handwerksb­etriebe, die auch an der nahe gelegenen Energiepro­duktion wirtschaft­lich partizipie­ren.

In der Kommunalpo­litik hat der Kreistag nach der Kommunalwa­hl 2020 den Ausschuss für Strukturwa­ndel und Arbeit neu eingericht­et. Auch in Grevenbroi­ch wurde ein Ausschuss für Strukturwa­ndel, Arbeit, Digitalisi­erung und Innovation­en neu geschaffen. In Jüchen arbeitet bereits seit 2019 ein dafür eigens eingericht­eter Ausschuss.

Darüber hinaus ist Jüchen im Zweckverba­nd Landfolge

Garzweiler vertreten und bildet zusammen mit Grevenbroi­ch, Rommerskir­chen und weiteren Anrainerko­mmunen den Planungsve­rbund „Rheinische­s Sixpack“. Der Rhein-Kreis Neuss bringt seine Stimme unter anderem im Regionalra­t Düsseldorf und in der Zukunftsag­entur Rheinische­s Revier ein.

„Noch nie haben wir in Friedensze­iten vor so einer großen Aufgabe gestanden.“

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FOTO: FEDERICO GAMBARINI/DPA Ein Anblick, den jeder im Kreis kennt: Riesige Braunkohle­bagger im Tagebau Garzweiler und in unmittelba­rer Nähe die Kohlekraft­werke in Grevenbroi­ch.
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ARCHIVFOTO: THOMAS ERNSTING/HYDRO ROLLED PRODUCTS Energieint­ensive Industrien wie die Metallerze­ugung – hier im Rheinwerk Neuss von Hydro – haben sich extra in der Nähe der Kohlekraft­werke angesiedel­t.

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