Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Möglicherweise lächelt die Kandidatin
Wie Politikerinnen und Politiker zwei Wochen vor der Wahl in Baden-Württemberg den Kontakt mit den Bürgern suchen – in Zeiten von Kontaktbeschränkung und Maskenpflicht.
LUDWIGSBURG Es ist vier Grad morgens um halb neun vor dem Bahnhof von Ludwigsburg, als Andrea Wechsler Flagge zeigt. Die Hochschulprofessorin stellt eine Fahne heraus, die sie strahlend als Landtagskandidatin zeigt. Mag sein, dass die 43-Jährige selbst jetzt auch strahlt, als sie den Menschen ein Tütchen mit Apfel und Wahlprogramm anbietet. Aber man sieht es nicht. Mund und Nase verschwinden hinter einer orangefarbenen FFP2-Maske. So wird es den ganzen Tag bleiben. Auch beim Wahlkampfstand am Rande des Wochenmarktes. Es ist ein Rennen unter Ausnahmebedingungen für die Landtagswahl in Baden-Württemberg am 14. März, ein Wahlkampf im Masken-Modus.
„Wir müssen besser, schneller und mutiger werden“, sagt Wechsler am Vorabend im „Ludwigstalk“. Die Gesprächsrunde wird live im Internet übertragen. Im Studio in einem Gewerbepark bleiben die Masken auf, bis die drei Teilnehmer – Moderator, CDU-Frau und Grünen-Frau – ihre Plätze einnehmen. Sie sitzen mit Abstand, haben zusätzlich noch Plastikwände zwischen sich – und vor sich die große Hoffnung auf viele Zuschauer. Denn das ist die Frage in diesem Wahlkampf, auch für Silke Gericke von den Grünen: Wie erreiche ich potenzielle Wähler? Wie komme ich in Kontakt in Zeiten der Kontaktbeschränkung?
Wie Wechsler hat auch Gericke einen älteren Mann als gestandenen Abgeordneten und sechsmaligen Kandidaten abgelöst. Die 46-Jährige hat einen Vorteil: Bei der jüngsten Wahl lagen die Grünen in Ludwigsburg zehn Prozentpunkte vor der CDU. Und auch jetzt ist der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann die überragende Persönlichkeit des Wahlkampfs. Die Grünen plakatieren fast ausschließlich ihn. „Er weiß, was wir können“, lautet der Slogan.
Die CDU reagiert darauf mit einem auf „sie“, also auf die Herausforderin, zugeschnittenen Wahlkampf. Spitzenkandidatin Susanne Eisenmann sitzt in der Landesgeschäftsstelle in Stuttgart in einem Saal, in dem gewöhnlich der Landesvorstand tagt. Jetzt ist er zum Studio umgebaut. Gerade war sie bei einer Veranstaltung der Parteifreunde in Tuttlingen, gleich geht es zu einem Treffen der CDU in Lörrach. Gewöhnlich liegen 125 Kilometer und zwei Stunden Autofahrt zwischen den Auftritten. Jetzt sind es nur Minuten. Denn das meiste ist auch für sie virtuell statt analog. Mit Blick auf die schnellere Abfolge von Auftritten sagt Eisenmann zu diesem Wahlkampf: „Er ist anders, aber nicht schlechter.“
„Es ist ein sachlicher Wahlkampf“, beschreibt Wechsler im Studio in Ludwigsburg die bisherigen Erfahrungen. Gerade hat Moderator Jens Kenserski den beiden Frauen
„viel Spaß“gewünscht. Allerdings wollte er bei der Vorbesprechung, dass sie sich möglichst nicht in die Haare kriegen, das wolle das Publikum nicht so sehr. Und so spricht die Grüne von Klimaschutz und dem Erhalt der Arbeitsplätze. Und die Schwarze nickt dazu. Und die Schwarze spricht von einer neuen Perspektive für die Kunst. Und die Grüne nickt dazu. Eher Kuscheln als Kampf.
Die Teams der Kandidatinnen versuchen, zusätzliche Resonanz über die sozialen Netzwerke zu mobilisieren. Dabei sind sie auch schon mit übersichtlichen Zahlen zufrieden. Mit 200 Zuschauern rechnet Kenserski für die 80 Minuten am Abend. Ein bis zwei Dutzend sind es, die auf den Accounts der Kandidatinnen bei Twitter und Instagram erreicht werden. Und was macht das mit den Erfolgsaussichten?
Zustrom und Reaktionen bei den Großveranstaltungen waren bei den gewöhnlichen Wahlkämpfen Gradmesser der Wählerstimmung. Das fehlt. Und auch ein anderer Trend scheint auf den Kopf gestellt: Immer mehr hatten sich immer später entschieden. Die letzten Tage waren für Wahlkämpfer immer wichtiger geworden. Jetzt kommen Einkäufer vom Wochenmarkt und wissen gar nicht, ob sie Wechslers Äpfel oder die Tütchen mit Vergissmeinnicht-Samen annehmen dürfen. „Ich hab ja schon gewählt“, heißt es binnen einer Stunde mindestens ein Dutzend Mal. So früh wie in Pandemie-Zeiten war noch nie entschieden. Erwartet wird, dass mehr als die Hälfte per Brief wählen wird.
Das kann auch Grund für einen lockeren Scherz sein: „Ich wollte mal sehen, wie Sie in echt aussehen“, sagt ein Passant – und fügt hinzu: „Und hier können Sie sehen, wie einer aussieht, der Sie schon gewählt hat.“Möglicherweise schmunzelt die Kandidatin. Man sieht es nicht. Ob sie in zwei Wochen jubeln darf? „Ich gebe alles, und dann werden wir sehen“, lautet Wechslers Vorsatz. Auch Gericke bleibt zurückhaltend. Denn in Baden-Württemberg macht das Wahlsystem jede Erwartung
fraglich. Vor Ort entscheidet zwar die Mehrheit, aber es gibt keine Reserveliste mit vorderen und hinteren Plätzen. In einem komplizierten Auszählverfahren steht erst in der Nacht fest, wer es ins Parlament schafft.
Insbesondere für die Kandidaten der kleineren Parteien bedeutet das: „Wir müssen alle gut sein.“Johanna Molitor will in Stuttgart für die FDP in den Landtag. Der 32-Jährigen kommt die Pandemie beinahe ein bisschen entgegen, denn sie arbeitete schon zuvor als Expertin für Digitales für die Landtagsfraktion.
Und sie beschreibt ein zusätzliches Problem: „Man weiß nie, wann man seine eigene Blase verlässt.“Sprich: Ob gerade Leute erreicht werden, die sowieso FDP wählen, oder ob auch ein paar dabei sind, die man für den Einzug ebenfalls braucht. Da zählt das persönliche Abschneiden. Und so hat die digital-affine Frau 60.000 analoge Flyer drucken lassen und an alle Haushalte verteilt.
Zusätzlich ist ihr Gesicht in Stuttgarts Innenstadt auf vielen Plakaten präsent. So wie die Plakate ihrer Mitbewerber. Bei vielen ist es die Zusammenführung von analogem und virtuellem Wahlkampf. Wer sein Smartphone aufs Plakat hält, bekommt direkt mehr Informationen über den aufgedruckten QR-Code angeboten. Molitor hat jedenfalls schon jetzt Grund zur Freude: Sie ist schwanger, wird im Frühsommer entbinden und hält es mit dem FDP-Slogan „Zwischen Kind und Karriere passt kein Oder“. Darauf wolle sie es ankommen lassen, sagt Molitor. Im Schatten der Pandemie hat sich in Baden-Württemberg eine neue und zupackende Generation von Politikerinnen auf den Weg gemacht.