Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Musterpatient Großbritannien
Im Kampf gegen Covid-19 verzeichnet das Königreich eine Trendumkehr. Die Impfkampagne läuft erfolgreich – und es gibt Pläne für den Weg aus dem Lockdown.
LONDON Das ging der britischen Massenpresse runter wie Öl. Deutschlands größte Zeitung hatte getitelt: „Liebe Briten, we beneiden you!“Während im Königreich die Impfkampagne gegen Corona zügig voranschreitet und es auch schon einen Fahrplan zurück zur Freiheit gibt, verschleppt sich in Deutschland die Immunisierung der Bevölkerung, und ein Ende des Lockdowns ist nicht in Sicht. Wie sich die Dinge ändern. Lange galt Deutschland wegen seines erfolgreichen Corona-Managements als das Rollenmodell. Jetzt wird Großbritannien zum Musterpatienten, obwohl die bisherige Bilanz gar nicht so gut ausfällt.
Am Anfang der Corona-Pandemie vor einem Jahr hatte Großbritannien so ziemlich alles falsch gemacht – zögerlich reagiert, zu spät einen Lockdown verhängt, zu früh gelockert, bevor man wieder strengere Maßnahmen einführen musste. Die Schaukelpolitik von Premierminister Boris Johnson führte dazu, dass Großbritannien die meisten Corona-Toten in Europa zu beklagen hat. Auch die Volkswirtschaft des Landes hat im Vergleich zu anderen G7-Staaten überproportional gelitten. Mit einem Wachstumseinbruch von knapp zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts verzeichnet man 2020 die schlimmste Rezession seit 300 Jahren.
In den vergangenen Wochen gab es eine Trendumkehr zu verzeichnen, nachdem der bisher dritte und rigoroseste Lockdown Wirkung zeigt. Die Zahl der Covid-Patienten in den Krankenhäusern sinkt stetig, die Zahl der Neuaufnahmen sank über die vergangenen sieben Tage um gut 20 Prozent. Die R-Rate wird derzeit auf zwischen 0,6 und 0,9 geschäzt. Obwohl die wesentlichen Kennziffern rückläufig sind, bewegt sich das Infektionsgeschehen auf einem im Vergleich zu Deutschland relativ hohen Niveau, da die Sieben-Tage-Inzidenz immer noch bei fast 120 liegt. Das bedeutet, dass es immer noch viele Corona-Patienten auf den Intensivstationen und leider immer noch viele Todesfälle gibt – am Mittwoch waren es 442.
Doch es gibt eine große Erfolgsgeschichte, die die Pannen in den
Schatten stellt: die Impfkampagne. Anfang Dezember begann man mit dem Impfen, und bis zum vergangenen Donnerstag hatten rund 19 Millionen Menschen die erste Dosis erhalten. Das sind immerhin mehr als 27 Prozent der Gesamtbevölkerung, während es in Deutschland bis jetzt nur etwas mehr als vier Prozent sind. Die britische Regierung hat das selbstgesetzte Ziel erreicht, bis Mitte Februar die gefährdetsten Risikogruppen zu immunisieren. Indem man die Bewohner von Seniorenheimen und ihre Pflegekräfte, die Altersgruppen der über 70-Jährigen, die Mitarbeiter im Gesundheitsdienst sowie vulnerable Menschen mit Vorerkrankungen immunisiert hat, hofft man nach amtlichen Schätzungen bis zu 88 Prozent von Corona-Todesfällen vermeiden zu können. Der schnelle Fortschritt beim Impfen hat Premier Johnson erlaubt, einen Fahrplan in die Freiheit anzukündigen. In vier Schritten soll der Lockdown sukzessive gelockert werden. Am 21. Juni, vorausgesetzt, es kommt zu keinem Rückschlag, soll es mit sämtlichen Corona-Einschränkungen des öffentlichen Lebens vorbei sein.
Großbritannien hat seinen Impf-Erfolg einigen riskanten Wetten zu verdanken. Zum einen hatte man sich früh, ganz am Anfang der Pandemie, schon auf eine Impfstrategie konzentriert. Eine Taskforce unter Leitung der Geschäftsfrau Kate Bingham wurde installiert, man legte sich auf bestimmte Impfstoffe fest, hat diese staatlich subventioniert, Vorverträge abgeschlossen, Produktionsketten aufgebaut sowie parallel getestet und spekulativ produziert. Man war das erste Land der westlichen Welt, das eine Notfallzulassung für einen Covid-Impfstoff – das Pfizer/ Biontech-Vakzin – erteilte und hatte in schneller Folge bis Ende 2020 drei Seren zugelassen.
Schließlich ging man ganz bewusst das Risiko ein, das Impf-Regime zu ändern. Statt wie von den Herstellern empfohlen, zwei Impfdosen im Abstand von drei, beziehungsweise vier Wochen zu verabreichen, hat sich die britische Regierung entschieden, zuerst die Anzahl der Empfänger zu maximieren, um einen ersten Impfschutz zu gewährleisten. Die zweite Dosis soll erst bis zu zwölf Wochen nach der ersten gespritzt werden. Doch auch hier geben jüngste Untersuchungsergebnisse aus Schottland dieser Strategie recht: Das Risiko eines Krankenhausaufenthalts für ältere Menschen ist, wie eine amtliche Studie zeigte, nach einer ersten Dosis des Astrazeneca-Impfstoffs um 94 Prozent reduziert.