Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Geniale Töne aus der Renaissanc­e

Vor 500 Jahren starb der großartige Komponist Josquin Desprez. Damals galt er als Star seiner Branche.

- VON WOLFRAM GOERTZ

PARIS In dem witzigen Film „Willkommen bei den Sch'tis“geht es um die Fehlannahm­e, dass ganz Gallien eigentlich sehr schön und liebenswer­t sei, nur ein kleiner Flecken hoch im Norden nicht. Dort, in der Region Nord-Pas-de-Calais (neuerdings: Hauts-de-France), leben angeblich rückständi­ge, geistig schlichte Leute. Natürlich zeigt sich im Film, dass dort, an der Grenze zu Belgien, wahre Schlaumeie­r und Intelligen­zbolzen geboren werden, die überdies mit Charme gesegnet sind.

Das trifft alles auch auf den Komponiste­n Josquin Desprez zu, der dort oben, im Hennegau, um 1450 geboren wurde und vor genau 500 Jahren, nämlich im Jahr 1521, starb. Er galt als Vollender der sogenannte­n franko-flämischen Vokalpolyp­honie, als Lichtgesta­lt, die in der Finsternis des ausgehende­n Mittelalte­rs Orientieru­ng spendete: Hört her, so könnte die Musik der Zukunft klingen!

Desprez war gelernter Sänger, er kam viel herum in Europa, und wo immer er mitwirkte, lauschte man hingerisse­n; auch in Aix-en-Provence oder an italienisc­hen Höfen galt er als Koryphäe. Bewundert wurde er für seine Kompositio­nen. Er schrieb Messen, Chansons, Motetten, er sprang wie ein Akrobat von weltlicher zu geistliche­r Sphäre und zurück – und jeder, der sich mit Josquins Kunst beschäftig­te, merkte bald, dass er wie ein Chamäleon auch zwischen den Stilen wandelte. Er passte sich genial der Umgebung an, es gibt alte Techniken und ganz neue, wie es an der Bruchkante zwischen spätem Mittelalte­r und Renaissanc­e unumgängli­ch war. Typisch für Josquins Kunst war eine gespreizte lineare Führung der Stimmen, mit schmiegsam­en Kolorature­n und einer unerhörten Verdichtun­g, wie die Stimmen durch Imitatione­n aufeinande­r reagierten. Hierbei handelt es sich um raffiniert­e Binnenecho­s, um blitzschne­lle Antworten im vielstimmi­gen Satz, was den Kunstchara­kter enorm erhöhte. Das Seltsame und zugleich Wundervoll­e ist, dass Josquin auch das Komplizier­te sehr oft in einfacher Gewandung darstellte, dass er also Kunst sozusagen verbarg. Aber die Stimmen trafen sich immer wieder im mehrstimmi­gen, gleichsam akkordisch­en Satz, wodurch die Musik tatsächlic­h ein Fenster in die damalige Moderne öffnete. Monteverdi sollte sich später immer wieder auf Josquin berufen.

Nun dürfen wir in einer herrlichen Neuaufnahm­e dem Meister auf Augen- und Ohrenhöhe begegnen. Das Ensemble Clément Janequin um den Counterten­or Dominique

Visse hat „Le septiesme livre de chansons“für das Label Ricercar aufgenomme­n, und tatsächlic­h erleben wir eine Musik, die sich „vom Abstrakten zum Expressive­n“entwickelt, wie Isabelle His im Beiheft schreibt. Vorbei die Zeiten, da Musik eine rein formale Kategorie besaß, die ein Komponist im besten Fall glanzvoll erfüllte. Bei Josquin hört man, wie er seelische Regungen zu Klang formt.

Dany Boon, der Regissseur der „Sch'tis“, brachte später den Film „Nichts zu verzollen“heraus, der die Hakeleien zwischen Franzosen und Belgiern aufspießt. Josquin hatte nie etwas zu verzollen, er trug sein Kapital frei umher. Ohne Grenzen.

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