Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Der Schmerz der Hinterblie­benen

Angehörige von Corona-Opfern schildern im Gespräch mit dem Bundespräs­identen ihre Gefühle. Im April folgt eine Gedenkfeie­r.

- VON GREGOR MAYNTZ

BERLIN Dem Beifall für das medizinisc­he Personal im Kampf gegen Corona im ersten Lockdown folgten die Kerzen in den Fenstern für die Toten im zweiten. 71.504 sind es bis zu diesem Freitag, an dem Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier das Gespräch mit Angehörige­n sucht. Aus Briefen weiß er, dass auch große Bitterkeit herrscht, wenn es nicht einmal die Chance gibt, sich zu verabschie­den: „Ein Thema, über das uns schon das Sprechen schwerfäll­t.“Aber das Sprechen hilft.

Kirsten Grieshaber macht im Schloss Bellevue den Anfang. Ihr Vater ist im November in Düsseldorf an Covid-19 gestorben. Martin Grieshaber war Biologie-Professor an der Heinrich-Heine-Universitä­t. Der 80-Jährige habe sich mit Viren ausgekannt und sei daher sehr vorsichtig gewesen, berichtet seine Tochter. Deswegen vermutet sie, dass er sich bei einem Krankenhau­saufenthal­t ansteckte und dann seine Frau infizierte. „Dann fing die Katastroph­e an“, sagt sie. Als ihr Vater auf der Intensivst­ation, ihre Mutter auf einer anderen Station desselben Krankenhau­ses gelegen habe, sei ihr dies wie „endlose Tage des Schreckens“vorgekomme­n. Wie viele andere starb auch er einsam. „Man braucht Berührung, man braucht jemanden, der einem die Hand hält, das ist das, was das Virus verhindert“, hält Grieshaber fest.

Voller Wehmut denkt Anita Schedel aus Passau an ihren Mann, der mit 59 Jahren an Covid-19 erkrankte und starb. „Er war ein sportliche­r Mensch, ein gesunder Mensch“, erzählt sie. Die einzige „Vorerkrank­ung“sei vor Jahren ein Skiunfall gewesen. Als Arzt wusste er um den bestmöglic­hen Schutz, war profession­ell gegen das Virus aufgestell­t, plante die Zeit nach der Genesung.

Als er mit Atembeschw­erden in die Klinik kam, sprach er vom baldigen Wiedersehe­n. Doch es folgte ein „sehr dramatisch­er Verlauf“– und die Erkenntnis seiner Frau, dass er ihr „wirklich aus dem Leben gerissen“worden sei.

Michaela Mengel hat ihre Tochter verloren. Die Essenerin berichtet mit stockender Stimme, wie sich das Mädchen mit dem seltenen Gendefekt wohl in einer Behinderte­nwerkstatt ansteckte, wie sie an Heiligaben­d den Rettungsdi­enst alarmierte und bald vom Krankenhau­s den Anruf bekam. „Dann habe ich zugeguckt, wie mein Kind gestorben ist“, sagt Mengel. „Mein Kind ist weg, mein Leben ist weg.“

Seit Kindertage­n hatte Andreas Steinhause­r aus dem Kreis Landshut ein besonderes Verhältnis zu seiner Oma. Und so litt der Notfallsee­lsorger besonders darunter, dass er sie bald nicht mehr besuchen durfte und sie dann verlor. Er kommt auf die Not der Hinterblie­benen zu sprechen, die auswählen müssen, wer zur Beerdigung kommen darf und wer nicht. Das bestätigt Aslan Mahmood, dessen Vater in Berlin-Moabit einen bekannten Supermarkt führte, bis er an Corona erkrankte und starb. Als die Polizei mitbekam, dass sein Vater „mindestens 1000 Menschen“gut kannte, sperrte sie am Beerdigung­stag die breite Heerstraße, um Trauernde fernzuhalt­en.

„Man braucht das Gefühl von Halt in der Gemeinscha­ft“, unterstrei­cht Trauerbegl­eiterin Regina Katharina Ziegler. Auch die Angehörige­n der 900.000 übrigen Verstorben­en hätten unter den Corona-Auflagen zu leiden. Sie spricht von einer „schwierige­n Gratwander­ung“, wie Artikel 1 des Grundgeset­zes mit dem unantastba­ren Schutz der Menschenwü­rde in Corona-Zeiten gewährleis­tet sein könne, wenn Angehörige von

Kirsten Grieshaber Hinterblie­bene

Sterbenden getrennt würden. „Uns allen fehlt eine Form des gemeinsame­n Gedenkens und Abschiedne­hmens“, sagt Steinmeier – und erinnert an seine Anregung, als kleines Zeichen der Trauer und Anteilnahm­e ein Licht ins Fenster zu stellen. Der Verstorben­en solle auch die Gemeinscha­ft gedenken: Am 18. April bei einer Gedenkfeie­r mit Staatsspit­ze und Hinterblie­benen in Berlin. Sein Anliegen sei es, den Hinterblie­benen eine Stimme zu geben und zu zeigen: „Ihr seid nicht allein mit eurem Leid und eurem Schmerz.“

„Man braucht jemanden, der einem die Hand hält. Das ist das, was das Virus verhindert“

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