Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Pekings Paukenschlag
Chinas Nationaler Volkskongress nickt ein angestrebtes Wirtschaftswachstum von sechs Prozent ab. Ökonomen rechnen mit mehr.
PEKING Wenn Chinas knapp 3000 Abgeordnete inmitten der weltweiten Pandemie in der Großen Halle des Volkes zusammenkommen, sendet allein die schiere Dimension eine beeindruckende Machtbotschaft in die Welt hinaus. Wie fast jedes Jahr wurde das wichtigste Politereignisses der Volksrepublik am Freitag mit einem regelrechten Paukenschlag eröffnet. Er trifft die ohnehin bereits brachliegende Opposition Hongkongs.
Die nun ersten Details der von Festlandchina aufgezwungenen „Wahlreform“für die Sonderverwaltungsregion sind nicht weniger als ein endgültiger Todesstoß für das pro-demokratische Lager: Demnach muss jeder Politiker, der künftig für das Parlament kandidieren will, von einem Peking-treuen Komitee abgesegnet werden. Laut Wang Chen, Vize-Vorsitzende des Ständigen Ausschusses, sollen nur mehr „Patrioten“Hongkong regieren dürfen, ohne jedoch näher auf den Begriff einzugehen. Chinas staatliche Nachrichtenagentur Xinhua titelte vom „demokratischen Wahlsystem mit Hongkonger Eigenschaften“.
Rund eine Woche noch wird der Volkskongress dieses Jahr andauern. Aus demokratischer Sicht sind die Sitzungen eine reine Farce, schließlich nicken die Abgeordneten praktisch einstimmig Gesetze ab, die sie nie zuvor gesehen haben. Doch für Beobachter ist die Veranstaltung dennoch ein wichtiger Gradmesser für den künftigen Kurs des Landes.
Normalerweise wird vor allem auf eine einzelne Zahl geschaut: das alljährliche Wachstumsziel. Nachdem 2020, also nur wenige Monate nach Ausbruch der Pandemie, erstmals kein konkreter Richtwert ausgegeben wurde, schlug die Staatsführung dieses Mal einen Kompromissweg ein. Man wolle ein Wachstum von „mehr als sechs Prozent“erreichen, heißt es. Das geradezu bescheidene Ziel liegt rund zwei Prozent hinter den Prognosen von Ökonomen für Chinas erwartetes Wachstum.
Doch für die Entwicklung des Landes sind es gute Nachrichten, dass sich die Bürokraten nun nicht mehr auf eine starre, überambitionierte Planzahl fokussieren müssen. Wie der chinesische Premierminister Li Keqiang am Freitag begründet, lasse dies mehr Spielraum zu, um sich auf Reformen und Innovationen zu fokussieren, die sich nicht unmittelbar in empirisch messbarem Wachstum niederschlagen. In seiner Grundsatzrede ging der auf dem Papier zweitmächtigste Mann des Landes immer wieder auf die Notwendigkeit ein, dass sich die Volksrepublik im Bereich der Hochtechnologie von der Außenwelt unabhängig machen müsse.
Diese Botschaft ist eindeutig an die Vereinigten Staaten gerichtet, die aus Sicht Pekings mit Handelskrieg
und Boykottdrohungen den wirtschaftlichen Aufstieg der neuen Weltmacht sabotieren wollen. Dementsprechend werden Chinas Forschungsausgaben bis 2025 jährlich um sieben Prozent steigen.
Ähnlich hoch fällt auch die Steigerung des diesjährigen Militärbudgets aus. Damit hinkt die Volksrepublik zwar nach wie vor den Vereinigten Staaten deutlich hinterher; und im Gegensatz zu Washington lassen sich in Pekings Militärstrategie auch keine globalen Ambitionen erkennen. Dennoch ist die technologische „Modernisierung“der Volksbefreiungsarmee, wie sie Staatschef Xi Jinping, immer offensiver mit künstlicher Intelligenz und autonomen Waffensystemen vorantreibt, insbesondere für die angrenzenden Nachbarländer in der Region besorgniserregend.
Letztendlich kann der streng orchestrierte Kongress in der Großen Halle des Volkes jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die nach außen vor Selbstbewusstsein geradezu strotzende Staatsführung im Innersten aus tiefer Unsicherheit agiert. Die drastisch gestiegene Zensur und systematische Unterdrückung von Andersdenkenden unter Parteisekretär Xi Jinping offenbart letztendlich, dass Pekings Elite vor allem Misstrauen, wenn nicht sogar Angst vor seiner eigenen Bevölkerung hegt.