Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Schalke darf seinen Fans nicht egal werden
MEINUNG Der Revierklub taumelt der Zweiten Liga entgegen. Für leidenschaftliche Anhänger ist es das Schlimmste, vor dem Fernseher nur zuschauen zu können. Dass die Misere viele Fans schon nicht mehr berührt, ist eine ernste zusätzliche Gefahr für den Verein.
DÜSSELDORF An mein erstes Schalke-Spiel im Stadion kann ich mich nicht erinnern. Nicht, weil es mir nichts bedeutet hat. Sondern eher, weil ich mit gerade einmal drei Jahren keine Ahnung hatte was um mich herum passiert: Das war 1998, Schalke hatte im Jahr zuvor mit den legendären Eurofightern den Uefa-Cup gewonnen und trug seine Spiele noch im Parkstadion aus. Mein Vater wollte wohl sicher gehen, dass auch ich die königsblaue DNA in mir tragen werde und nahm mich so oft es ging mit ins Stadion. Oft sogar ohne Karte – er setze mich die 90 Minuten dann einfach auf seinen Schoß oder auf die Schultern.
Man kann also sagen: Seit ich denken kann, bin ich Schalke-Fan – eher noch länger. 23 Jahre sind seit meinem ersten Stadion-Besuch vergangen. Ich habe schmerzlich miterlebt wie Schalke 2001 „Meister der Herzen“wurde, war am Boden zerstört, als die Meisterschaft 2007 ausgerechnet im Derby verspielt wurde, konnte drei DFB-Pokalsiege bejubeln und begleitete den Verein gemeinsam mit tausenden Fans zu internationalen Spielen nach Lissabon, Amsterdam und Porto.
Ich gehöre zu der Generation von Schalke-Fans, die mit regelmäßigen Teilnahmen an der Champions und Europa Leauge aufgewachsen ist. Natürlich habe auch ich Höhen und Tiefen miterlebt. Immerhin hat der Verein seit meiner Geburt 29 Mal den Trainer gewechselt. Aber ein Abstieg von Schalke? Undenkbar für mich. Selbst in den vergangenen Jahren, als der Blick durchaus auch mal Richtung Abstiegsränge gehen musste, konnte ich mir nicht vorstellen, dass dieser große Klub jemals absteigen könnte.
Mein größter Bezug zur 2. Liga war stets das Trikot der Saison 1988/1989, das mir mein Vater vererbt hat: die bislang letzten S04-Jahre in Liga Zwei – weit vor meiner Zeit.
Nun wird es bald sehr wahrscheinlich ein neues Dress mit dem Label „Schalkes Zweitligatrikot“geben – und das tut weh. Wahnsinnig weh. Und damit meine ich nicht nur die sportliche Situation: Die Tatsache, dass die Gegner ab Sommer nicht mehr Dortmund oder Gladbach – geschweige denn Inter Mailand – sondern Heidenheim, Regensburg und Aue heißen werden. Ich meine vor allem die Art und Weise, wie ich den Niedergang – um nicht zu sagen Untergang – meines Vereins miterleben muss.
Vor ziemlich genau einem Jahr war ich das letzte Mal im Stadion. Hatte das letzte Mal das Gefühl, dass wir – die Fans – etwas ausrichten können. Mit der Wucht der Nordkurve die Mannschaft nach vorne peitschen. Gemeinsam gewinnen und gemeinsam verlieren. Seitdem ist viel passiert. Viel Schmerzhaftes. Mit der Corona-Krise zementierte sich auch auf Schalke eine Krise, die im wöchentlichen Rhythmus ihren eigenen negativen Superlativ übertreffen konnte. Es ging immer noch schlimmer: der Tönnies-Eklat, peinliche Klatschen, entlassene Trainer, gescheiterte Transfers, suspendierte und dann doch wieder begnadigte Spieler. Mein Verein zerlegte sich zunehmend in seine königsblauen Einzelteile und mir blieb nichts anderes übrig, als es machtlos vor dem Bildschirm zu ertragen.
Jeder neue Tiefpunkt ein gefundenes Fressen für all jene, die es nicht mit dem S04 halten. Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Was habe ich in den letzten Monaten nicht alles für kreative Witzchen geschickt bekommen: Rot-Weiß Essen hat diese Saison übrigens mehr Bundesligisten geschlagen als Schalke und an der Supermarkt-Kasse sage ich doch sicherlich, dass ich keine Punkte sammle – bin ja schließlich Schalke-Fan. Von den nicht aufhörenden Tasmania-Berlin-Vergleichen ganz zu schweigen.
Aber Häme war ich als Schalke-Fan schon immer gewohnt. Schlimmer ist das Mitleid. Die Nachfragen von Fans anderer Vereine aus dem Freundeskreis. „Sag mal, was ist denn da bei euch auf Schalke los?“Ganz ehrlich: Ich weiß es doch auch nicht. Ich muss – wie alle Schalke-Fans – miterleben, wie die handelnden Personen den Verein
GEGENPRESSING
ruinieren und kann nur hilflos dabei zusehen.
Personen, die nicht mehr in Gelsenkirchen sein werden, wenn der Ball voraussichtlich in der zweiten Liga rollt. Die meisten Spieler werden dann für einen anderen Verein auflaufen. Die Trainer werden mit anderen Mannschaften zusammenarbeiten. Die Funktionäre leiten die Geschicke an anderer Stelle. Was bleiben wird, sind wir Fans. Das Herzstück des Klubs. Wir werden vor den Trümmern des Vereins stehen, nachdem wir über ein Jahr tatenlos zu Hause zuschauen mussten. Und die verantwortlichen Personen, die den Verein in diese Situation manövriert haben, werden weitergezogen sein.
Fest steht: Auch ohne Corona-Pandemie und Geisterspiele würde sich der Verein in einer beispiellosen Krise befinden. Aber ich glaube – nein, ich weiß – dass die Situation auf Schalke im März 2021 mit 62.000 Zuschauern im Stadion eine andere wäre. Dieses Wissen ist schlimmer als die Wut, die Trauer und die Enttäuschung nach jeder erneuten Niederlage. Denn es ist ein Gefühl der Machtlosigkeit, der Ohnmacht.
Was ich noch nicht fühle ist Gleichgültigkeit. Jede weitere Pleite und jede weitere Peinlichkeit, die sich der Verein leistet, tut weh. Das geht längst nicht mehr allen Königsblauen so. Viele Menschen in meinem Umfeld nehmen den Untergang zunehmend achselzuckend hin. „Ich schaue mir das Elend schon gar nicht mehr an“, höre ich von Familie und Freunden immer häufiger. Das ist die größte Gefahr für Schalke. Dass sich die Fans abwenden, entfremden oder ganz weg bleiben. Dass Schalke den Menschen, die den Verein eigentlich so lieben und leben, egal wird. Schalke darf nicht egal werden.
In der Vereinshymne heißt es: „Tausend Freunde, die zusammenstehn`, dann wird der FC Schalke niemals untergehen“. Doch damit das funktioniert, müssen am Ende noch genug königsblaue Freunde übrig bleiben. Ich werde da sein – egal in welcher Liga.