Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Corona treibt Menschen in die Überschuldung
Immer mehr Menschen suchen Hilfe bei Schuldnerberaterin Viktoria Sidorenko. Sie befürchtet einen weiteren Anstieg. Das hat mehrere Gründe.
KORSCHENBROICH Wenn die Lage ausweglos erscheint, kommen die Menschen zu ihr: Insbesondere seit dem zweiten Lockdown hat Viktoria Sidorenko von der Schuldnerberatung in Korschenbroich viel zu tun. Die Sozialarbeiterin der Diakonie im Rhein-Kreis Neuss ist zweimal pro Woche in der Beratungsstelle in der Hannengasse tätig und bekommt die Auswirkungen der Corona-Pandemie direkt zu spüren.
„Nebenjobs fallen weg, vielen droht die Arbeitslosigkeit und dann wissen die Betroffenen nicht, wie sie ihre Rechnungen bezahlen sollen“, beschreibt Sidorenko die unterschiedlichen Anliegen, mit denen sich verschuldete Menschen an die Beratungsstelle wenden. „Viele schämen sich, wenn sie mit uns Kontakt aufnehmen müssen“, sagt Sidorenko. Sie rät aber jedem in finanzieller Not, möglichst frühzeitig Kontakt mit der Schuldnerberatung aufzunehmen. Wer nur drei Gläubiger habe, dem könne meist recht schnell geholfen werden, weiß sie. „Es gibt aber auch Menschen, die bis zu 70 Gläubiger haben“, sagt die Diplom-Sozialpädagogin, die seit 20 Jahren bei der Diakonie arbeitet.
Seitdem sie eine Zusatzqualifikation zur Schuldnerberaterin abgeschlossen hat, berät die gebürtige Russin Menschen in finanziellen Notlagen. Seit 2005 ist sie in Korschenbroich
tätig.
Um sich einen Überblick über die jeweilige Situation verschaffen zu können, braucht Viktoria Sidorenko sämtliche Unterlagen der Betroffenen: Gläubigerlisten, Kontounterlagen, Rentenbescheide, Unterhaltsverpflichtungen,
Mietverträge sowie Mahnschreiben. Wer sich beraten lassen will, sollte daher bereit sein, seine finanziellen Verhältnisse offenzulegen, freiwillig mitzuarbeiten und ganz wichtig: keine weiteren Schuldverpflichtungen einzugehen.
Wenn alle Unterlagen beisammen sind, kann Sidorenko mit den Betroffenen eine Strategie zur sogenannten Schuldensanierung entwickeln.
„Ich erstelle Haushaltspläne, versuche die Existenz abzusichern oder berate zu einem Pfändungsschutzkonto“, sagt Sidorenko. Letzteres sichert Betroffenen bestimmte Freibeträge zu, wird aber von Kreditinstituten nur umgewandelt, wenn entsprechende Bescheinigungen vorgelegt werden. Diese stellt Sidorenko aus, wenn sie die Unterlagen geprüft hat und die individuellen Voraussetzungen erfüllt sind. Zudem hilft die Schuldnerberatung bei Verhandlungen über Ratenzahlungen, Stundungen oder Zinserlass.
Wenn die finanzielle Situation ausweglos ist, bleibt noch die Verbraucherinsolvenz. Hier hat sich zum Jahresbeginn Entscheidendes geändert: „Bislang lief die Privatinsolvenz über sechs Jahre, jetzt sind es drei Jahre“, sagt Sidorenko. In derartigen Fällen gehen die Gläubiger meist leer aus. Sidorenko sieht das pragmatisch: „Wenn ohnehin kein Geld da ist, ist es auch egal, ob das Verfahren sechs oder drei Jahre lang dauert. Das macht dann auch nichts mehr aus.“
Sie befürchtet, dass die Pandemie zu einer Zunahme von überschuldeten Menschen führen wird. „Im Moment können sich einige noch gerade so über Wasser halten. Aber die Zahl der Insolvenzen wird steigen“, vermutet sie. Auch die lange Zeit der Kurzarbeit sowie der Wegfall von Nebenjobs werde gravierende Auswirkungen auf die finanzielle Situation vieler Menschen haben. „Ich merke in den Gesprächen, dass die psychische Belastung zugenommen hat und sich viele überfordert fühlen“, sagt Sidorenko.
Im Schnitt hatte sie bislang pro Jahr 93 bis 115 Beratungen. Seit Ende vergangenen Jahres und vor allem seit Anfang 2021 haben deutlich mehr Menschen Rat gesucht. „Wir kommen kaum mit der Arbeit hinterher“, sagt Sidorenko. Dennoch rät sie: Wem die Schulden über den Kopf wachsen, soll sich melden. „Wir versuchen, Perspektiven zu geben.“Persönliche Kontakte sind seit dem zweiten Lockdown nicht mehr möglich. Die meisten Gespräche finden am Telefon oder bei ausführlichen Beratungen auch per Video-Telefonie statt.