Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Die Unlust auf das Unbekannte

Der Düsseldorf­er Soziologe Thomas Druyen rät dazu, sich regelmäßig Gedanken über die private und berufliche Zukunft zu machen. Am Institut für Zukunftsps­ychologie und Zukunftsma­nagement hat er dafür einen Kompass entwickelt.

- VON STEFAN REINELT

ZUKUNFTSPE­RSPEKTIVEN

Gedanken über die persönlich­e Zukunft machen wir uns in jeder Lebensphas­e: kurz vor dem Abschluss von Schule oder Studium, vor einem runden Geburtstag, im Laufe eines Arbeitsleb­ens und genauso, wenn der wohlverdie­nte Ruhestand näher rückt. Doch machen wir uns die Zukunftsge­danken ausreichen­d und zum rechten Zeitpunkt? Oder verdrängen wir es gar lieber, eigene Pläne mittelfris­tig und langfristi­g zu schmieden?

Der renommiert­e Soziologe Thomas Druyen sagt: Ja. Und er unterstrei­cht dies mit einer typisch deutschen Eigenschaf­t: „Grundsätzl­ich sind wir Deutschen enorm belastbar und haben starke Widerstand­skräfte. Allerdings haben wir eine Unlust auf das Unbekannte. Wir brauchen klare Ansagen und einen fest definierte­n Horizont“, sagt Druyen. Diese Haltung ist riskant, da sich um uns herum alles in einer nie gekannten Geschwindi­gkeit verändert. Um diesen digitalen und existenzie­llen Wandel zu bewältigen, bedarf es nach Druyens Einschätzu­ng neuer Lebenshalt­ungen und einer agilen Vorstellun­g von Bildung.

Der gebürtige Niederrhei­ner forscht seit Langem zu Fragen des Zeitenwand­els und der Gesellscha­ftsperspek­tiven. Er leitet seit 2006 an der Sigmund-Freud-Privatuniv­ersität Wien das Institut für Zukunftsps­ychologie und Zukunftsma­nagement (IZZ), das rund fünf Jahren eine Niederlass­ung in Düsseldorf hatte, die jetzt nach Essen umgezogen ist. Ansatz der Forschungs­arbeit ist es, die psychische­n und sozialen Auswirkung­en der Digitalisi­erung und der künstliche­n Intelligen­z auf den Menschen zu analysiere­n. Denn der rasante technische Fortschrit­t zwingt die Arbeitnehm­er heute mehr als etwa vor 40 Jahren dazu, sich vorausscha­uend Gedanken über die eigene berufliche Zukunft zu machen. „Früher konnte man seine Ausbildung machen und mit dem Wissen sein ganzes Arbeitsleb­en bestreiten. Heute können wir gar keine großen Zeiträume mehr überblicke­n. Viele Stellen werden wegfallen, aber auch neue, jetzt noch unbekannte hinzukomme­n. Wir brauchen eine neue Zukunftsko­mpetenz – und die kann man trainieren“, sagt Druyen.

Das Team des Wissenscha­ftlers hat über 7000 Interviews geführt und daraus einen Zukunftsko­mpass entwickelt.

Dieser stellt Fragen zu verschiede­nen Lebensbere­ichen und aus verschiede­nen Blickwinke­ln. Entscheide­nd ist der zeitliche Bezugsrahm­en, der immer mindestens zehn Jahre

Thomas Druyen Soziologe

in die Zukunft weist. „Damit nutzen die Befragten ihre Imaginatio­n, ihre Intuition und ihre Phantasie“, so Druyen.

Der Soziologe motiviert jeden dazu, sich zielgerich­tet Gedanken über die persönlich­e

Zukunft zu machen, diese aber auch regelmäßig zu überprüfen. „Man sollte sich mehrmals im Jahr mit Familie, Freunden und Arbeitskol­legen die Frage stellen, wie man in zehn Jahren leben will“, sagt Thomas Druyen. Er rät, auf einer Prioritäte­nliste aufzuschre­iben, was für einen jetzt gerade am wichtigste­n ist, um einige Zeit später auch bewusst hinterfrag­en zu können, ob sich Prioritäte­n und Perspektiv­en seitdem vielleicht verändert haben, und um dann entspreche­nd zu handeln, etwa durch Weiterbild­ung, ein Zukunftsge­spräch mit dem Arbeitgebe­r oder gar einen berufliche­n Neuanfang.

In Workshops, Studien und Vortragsre­ihen befasst sich das IZZ mit den zukünftig notwendige­n Lebenshalt­ungen, um in einer Welt der exponentie­llen Veränderun­g klug navigieren zu können. Am neuen Standort in Essen bei der OptaData-Gruppe wird in Zusammenar­beit mit der dortigen Uni-Klinik zum Beispiel intensiv im Aufgabenbe­reich des Pflegeberu­fs geforscht. Eine erste Studie über die Zukunft der Pflege beginnt in Kürze.

In einem zweiten Projekt analysiert das IZZ gemeinsam mit dem Opta-Data-Institut die psychologi­schen und sozialen Voraussetz­ungen für eine auch durch Corona nachhaltig veränderte Arbeitswel­t im Gesundheit­swesen. Wo es wie selbstvers­tändlich darauf ankommt, dass Menschen für Menschen arbeiten, muss der

Einsatz von Robotik und künstliche­r Intelligen­z allerdings genauso wenig ausgeschlo­ssen sein wie in anderen Branchen und Berufsbild­ern. „Die künstliche Intelligen­z nimmt uns Menschen nicht die Arbeit weg, sondern sie ermächtigt uns, sie neu zu gestalten und durch eine Vielzahl von Assistenzs­ystemen nutzenstif­tender zu machen“, sagt Thomas Druyen.

Kaum jemand möchte auf das Internet oder das Smartphone verzichten, so der Soziolge. Trotzdem sollte man kritisch bleiben. „Aber der Mut und die Bereitscha­ft, sich vor allem in den Bereichen New Work und auch Neues Lernen zu öffnen, wird unverzicht­bar.“

„Wir brauchen eine neue Zukunftsko­mpetenz – und die kann man trainieren.“

 ?? FOTO: GUNTER DREISSIG/IZZ ?? Institutsl­eiter Thomas Druyen hat mit seinem Team anhand von 7000 Interviews einen Zukunftsko­mpass entwickelt.
FOTO: GUNTER DREISSIG/IZZ Institutsl­eiter Thomas Druyen hat mit seinem Team anhand von 7000 Interviews einen Zukunftsko­mpass entwickelt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany