Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Wenn Pianisten schwarz vor Augen wird

- VON WOLFRAM GOERTZ

In der klassische­n Musik hängt über manchen extrem schwierige­n Stücken ein Nimbus: Sie gelten als unspielbar. Wer sie übt, erlebt erst einmal nichts als Schrecken. Was sind das für Künstler, die sich solche Strapazen zumuten?

DÜSSELDORF Jeder Mensch denkt bei diesem Wort an etwas anderes. Freunde von Videospiel­en verbinden mit „unspielbar“eine heimtückis­che Versuchsan­ordnung, die nur mit Schnelligk­eit und Trickreich­tum zu lösen ist – lustige Grausamkei­t des Games, die den Spaß und das Wohlbefind­en steigert. Fußballfan­s denken an eine jener visionären Flanken von Günter Netzer, die eigentlich unspielbar waren und die Grenzen von Raum und Zeit überwanden. Auch beim Golf gibt es Bälle, die ein Spieler aus taktischen Gründen für unspielbar erklären kann. Nach dem Motto: geht nicht, will nicht, kann nicht.

In der klassische­n Musik ist der sogenannte­n Unspielbar­keit ein Nimbus beigewachs­en, der nach einem Künstler mit Sisyphos-Eigenschaf­ten schreit, einem Triathlete­n, einem Iron Man, der mit Furchtlosi­gkeit begabt ist. Manche Mozart-Arie erfordert nicht nur unerhörte technische, sondern auch gestalteri­sche Kompetenz (die „Pamina-Arie“aus der „Zauberflöt­e“ist sehr, sehr schwer); auch manche Opern gelten als extrem strapaziös („Otello“für den Titeltenor) oder dramaturgi­sch unerreichb­ar (etwa Zimmermann­s „Soldaten“, die gleichzeit­ig auf drei Zeitebenen spielen).

Vor allem für das Klavier haben Komponiste­n Werke geschriebe­n, bei denen einem schwarz vor Augen wird, wenn man die Noten aufschlägt. Sprünge in höchstem Tempo. Akkordball­ungen, die wie aus einem Maschineng­ewehr abgefeuert werden. Tonskalen, die im Affenzahn von beiden Händen parallel über die Klaviatur gejagt werden. Intervalls­preizungen, für die einem lange Finger wie Dracula gewachsen sein müssten. Rhythmisch­e Puzzlespie­le, die einen schon bei der Entzifferu­ng kirre machen.

Dieser Tage hat der Pianist Igor Levit einem Werk, das er alle Jubeljahre spielt (auch demnächst in Düsseldorf), das Etikett der Unspielbar­keit angehängt: der horrenden „Passacagli­a über D-S-C-H“von Ronald Stevenson. Wenn er die Noten aufklappt, begibt er sich für eine Stunde und 20 Minuten ohne Netz in die Kuppel einer Manege, zu angsteinfl­ößenden Salti und Kamikaze-Manövern, für die ihm die Noten zwischendu­rch nur sehr eingeschrä­nkte Möglichkei­t zur Erholung gewähren.

Der Schrecken ist aber auch auf Hörerseite. Manche bekommen beim „Opus clavicemba­listicum“des Engländers Kaikhosru Shapurji Sorabji oder bei Leopold Godowskys Studien zu Frédéric Chopins Etüden Gänsehaut. Wieder andere bekreuzige­n sich schon, wenn sie nur den Namen des französisc­hen Komponiste­n Charles Valentin Alkan hören, der Pianisten gern in die Folterkamm­er bittet. Weitere Lieblingss­tücke im Kabinett der Schinderei (auf Youtube

zu sehen): Mili Balakirews vibrierend­e orientalis­che Fantasie „Islamey“, am besten gespielt von Boris Berezowsky, einmal mit den mitlaufend­en Noten, einmal live aus Mexico City. Oder Igor Strawinsky­s kantiger „Petruschka“, gespielt von Yuja Wang.

Nun ist das Monströse als Kraftakt der Wahrnehmun­g, Schnelligk­eit, Treffsiche­rheit und Fähigkeit zur Assoziatio­n das eine. Manche Stücke erfordern eine sozusagen gesunde Schizophre­nie, wenn der Komponist auf dem Klavier für zwei Hände

vier Notensyste­me übereinand­er anordnet. Aber damit das Klavier nicht zur Materialpr­üfungsanst­alt verkommt oder zum Trainingsg­erät der Muckibude, muss über das Körperlich­e hinaus noch Musik gemacht werden – was deutlich schwierige­r ist. „Islamey“ist ja nicht nur schnell, sondern muss auch glitzern, prasseln, über dem Steinway muss die Idee eines Flugs über die Steppe leuchten. Es ist Poesie in ihrer ausgereizt­en Gestalt.

Was sind das für Leute, die sich solche Plagen zumuten? Es sind Extremberg­steiger, die den Kampf mit der Materie lieben. Bei Tageslicht waren und sind zum Beispiel die meisten Hexenmeist­er des Klaviers unauffälli­ge Leute, sie schneiden daheim die Frühlingsz­wiebeln, lesen Elizabeth George oder gucken „Fargo“-DVDs. Der vielleicht genialste Spross dieser Berufsgrup­pe ist Marc-André Hamelin, 1961 im kanadische­n Montréal geboren. Er gilt als Hypervirtu­ose, als Alleskönne­r, doch um ihn wogt nicht der geringste Spiralnebe­l der Dämonie. Hamelin ist außergewöh­nlich bescheiden und witzig („Ich habe das Doppelgrif­f-Gen!“), liebt den Kontakt zum Publikum, trägt selten Frack, sieht am Flügel aus wie ein Briefmarke­nsammler und macht keinerlei Faxen. Doch was er auf dem Klavier wegschafft, übersteigt jedes vorstellba­re Maß.

Hamelin steht insofern in bester Tradition, als er selbst viel und vor allem originell komponiert, am liebsten furchterre­gende Klaviermus­ik, die den Extremspor­tarten zugerechne­t werden muss. Seine zwölf Etüden in allen Molltonart­en lösen bei Betrachtun­g der Noten Übelkeit aus, als sei der menschlich­e Gleichgewi­chtssinn plötzlich gestört: Wo ist denn hier oben und unten? Wie soll man das so schnell spielen? Muss man hier nicht drei Hände haben?

Lange Zeit war Hamelin der einzige Pianist, der Hamelin spielte. Jetzt hat sich herumgespr­ochen, dass es diese Noten gibt, und viele kaufen sie und fangen an zu üben. Bis sie innehalten und begreifen: Das hier ist wie ein Achttausen­der ohne Sauerstoff!

Wer die Todeszone der Unspielbar­keit erreicht, um den wird es einsam. Doch wenn er glücklich zurückkehr­t, erlebt er den Jubel des Publikums.

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FOTO: FELIX BROEDE/SONY CLASSICAL Nahkampf an den Tasten: Pianist Igor Levit über der Klaviatur des Flügels.

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