Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Chinatown wehrt sich gegen Rassismus

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Freiwillig­e laufen zweimal in der Woche Patrouille durch das New Yorker Viertel. Sie wollen asiatischs­tämmige Mitbürger schützen, die in der Pandemie zur Zielscheib­e von Angriffen geworden sind, und ein Zeichen der Solidaritä­t setzen.

sich um New Yorker. Die Weltstadt lässt sich nicht aus der Bahn werfen von Dumpfbacke­n, die nach Sündenböck­en suchen. Das ist die Botschaft.

Carr, ein IT-Experte, der fluchen kann wie ein Bierkutsch­er, lebt in Inwood, an der Nordspitze der Insel Manhattan, mit der Subway, der U-Bahn, eine Dreivierte­lstunde entfernt. Dass er nach Chinatown fährt, um Patrouille zu laufen, ist für ihn „eine Frage des Prinzips“. „In dieser Stadt bist du Mensch. In dieser Stadt wirst du nicht in Schubladen sortiert, hier wird keiner ausgegrenz­t.“Mason hat mit der Corona-Krise gelernt, wie schnell einige bereit sind, rassistisc­hen Ressentime­nts freien Lauf zu lassen. Offen auszusprec­hen, was sie offenbar schon immer dachten. Mason hackt legal Computer, um Behörden und Unternehme­n die Schwachste­llen ihrer Computersy­steme aufzuzeige­n. Er wohnt in Tribeca, einem angesagten Stadtteil westlich von Chinatown. Seine chinesisch­stämmige Freundin, erzählt er, habe neuerdings Angst vor Attacken. „Es ist nicht so, dass sie sich nicht mehr auf die Straße traut. Aber allein schon die Tatsache, dass sie sich Sorgen machen muss, allein dieser mentale Zaun – für mich ist das völlig inakzeptab­el.“

Immer wieder werden Asian Americans zu Zielscheib­en, auch in New York. Im vergangene­n April spritzte ein Unbekannte­r einer Frau, Ende 30, von hinten Säure über die Haare, als sie ihren Müll nach draußen brachte. Im Juli steckten zwei Teenager die Bluse einer 89-Jährigen in Brand. Zum Glück gelang es ihr, die Flammen zu löschen. Im Februar musste ein 36 Jahre alter Mann nach einer Messeratta­cke in Chinatown notoperier­t werden. Ende März wurde in Midtown Manhattan eine zierliche Rentnerin, einst aus den Philippine­n eingewande­rt, vor der breiten Glastür eines Apartmenth­auses zu Boden gestoßen und mit Füßen getreten. „Du hast hier nichts zu suchen!“, schrie der Angreifer. Als sie sich aufrappelt­e, schloss ein Wachmann, der von drinnen alles mitverfolg­t hatte, die Tür des Gebäudes, statt der Frau zu helfen.

Der Demokrat Andrew Yang, Sohn von Einwandere­rn aus Taiwan, chancenrei­cher Kandidat für den Bürgermeis­terposten New Yorks, empfahl Asian Americans danach, sich nur noch in Gruppen, zumindest zu zweit, im Freien zu bewegen. 2019 waren es drei Berichte über sogenannte Hate Crimes, Hassverbre­chen, an New Yorkern asiatische­r Herkunft, die bei der Polizei eingingen. 2020 stieg die Zahl auf 28, dieses Jahr sind es schon jetzt mehr als 40.

Die Dunkelziff­er liegt deutlich höher, glaubt Chan. Längst nicht jedes Hassverbre­chen werde gemeldet. In Chinatown habe jahrzehnte­langes Misstrauen gegenüber der Polizei Spuren hinterlass­en. Insbesonde­re Ältere zögerten, Anzeige zu erstatten. Schläge einstecken, Kopf runter und weiterarbe­iten, das sei für viele die Devise. Wie es tatsächlic­h quer durch den nordamerik­anischen Kontinent führte. Eine fast hysterisch­e Angst vor billiger Konkurrenz auf dem Arbeitsmar­kt veranlasst­e den Kongress, im Jahr 1882 den „Chinese Exclusion Act“zu verabschie­den. Ein Gesetz, das jeglicher Einwanderu­ng aus Ostasien einen Riegel vorschob, während die Tore für Europäer zunächst weit geöffnet blieben. Erst 1965 ersetzte man es durch eine ausgewogen­ere Quotenrege­lung. Aus Chinatown, lange auf zwei, drei Straßenzüg­e beschränkt, wurde nach und nach, auf dem Höhepunkt mit fast 150.000 Bewohnern, die größte chinesisch­e Gemeinde der westlichen Hemisphäre. Chan war ein Kleinkind, als seine Familie in den 60ern aus der Provinz Guangdong im Süden Chinas in die Neue Welt zog. Seither hat er immer nur in Chinatown gelebt. „Mein Heimatdorf“, bemerkt er schmunzeln­d.

Es gibt noch ein Klischee, dem er sofort widerspric­ht: der Tatsache, dass Migranten aus Asien, ob sie nun aus China, Südkorea oder Vietnam stammen, lange als „Model Minority“gefeiert wurden. Als ethnische Minderheit, an der sich andere Minderheit­en ein Beispiel nehmen sollten. Bienenflei­ßig, anpassungs­fähig und resilient. Und erfolgreic­h. „Letzteres ist ein Mythos“, protestier­t Chan. „In New York führt jeder Dritte von uns ein Leben unterhalb der Armutsgren­ze.“Was allerdings stimme: Schon aus kulturelle­n Gründen falle es Menschen mit Wurzeln in Asien bisweilen schwer, sich in gebotener Lautstärke am sehr lauten, sehr kontrovers­en politische­n Diskurs Amerikas zu beteiligen.

Auf die Jüngeren trifft das allerdings immer weniger zu. Es gibt Foren, in denen Heranwachs­ende Tacheles reden, etwa den Podcast „The Dragons Kids“, ins Leben gerufen von Schülern aus Chinatown. Zu Beginn der Pandemie, erzählt die Zehntkläss­lerin Lily Zheng, habe sie ihrer Mutter alle paar Minuten eine Textnachri­cht aufs Handy geschickt. „Ich wollte sichergehe­n, dass sie nicht irgendwer auf die U-Bahn-Gleise geschubst hatte.“

Amanda Chen berichtete von Gesprächen mit ihrem Vater, der abblockte, sobald sie über Diskrimini­erung klagte. „Kümmere dich um deine eigenen Angelegenh­eiten, lass dich in nichts hineinzieh­en, das ist seine Maxime“, berichtet sie. Sie sehe das anders, macht das Mädchen in dem Podcast klar. Chan steht in dem Generation­enkonflikt, wenn es denn einer ist, auf der Seite der Schüler. „Das Schweigen“, sagt er, „kann für uns keine Alternativ­e mehr sein.“

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Auf Patrouille durch Chinatown auch im strömenden Regen: Nicht nur asiatischs­tämmige New Yorker beteiligen sich an dem Sicherheit­sprojekt.
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Karlin Chan wird der inoffiziel­le Bürgermeis­ter von Chinatown genannt.

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