Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Ausgerechnet Schweden
In dem skandinavischen Land, das sich viel auf die Gleichberechtigung der Geschlechter zugute hält, häufen sich derzeit schwere Gewaltverbrechen und Misshandlungen. Die Empörung reicht bis zum Regierungschef.
STOCKHOLM Marylin Petterson versuchte noch, der jungen Frau mit einer Herzdruckmassage zu helfen. Das Opfer war von mehreren Schüssen, unter anderem in den Kopf, getroffen worden. Der Tatort im südschwedischen Malmö bot ein Bild des Grauens. „Alles war voll mit Blut. Sie hielt ihr Baby noch in einem Arm, Handy, Schlüssel und Geldbörse in der anderen“, erinnert sich die Nachbarin. „Der Papa saß zusammengesunken am Hauseingang und weinte. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, bis der Krankenwagen kam“, sagt sie. Im Krankenhaus starb die 31-Jährige. Das zwei Monate alte Kind und der früher kriminelle Vater, dem der Racheakt vermutlich galt, blieben körperlich unversehrt.
Die 17-jährige Wilma Anderson starb, weil ihr Freund zwanghaft eifersüchtig war. Noch vor Gericht beteuerte der 23-Jährige seine Unschuld, obwohl die Polizei Wilmas abgetrennten Kopf in seiner Wohnung gefunden hatte. Nachdem er wegen Mordes verurteilt worden war, sagte der Täter im Gefängnis, so berichtete es ein Wärter: „Sie verdiente es, die kleine Hure.“
Eine Welle von Gewalt gegen Frauen erschüttert derzeit Schweden, bis hin zu Morden. Die entsetzten Reaktionen sind zahlreich. In den vergangenen drei Wochen starben mehrere Frauen, grundsätzlich nimmt die Gewalt gegenüber Frauen zu. Politiker versprechen mehr Hilfe für Frauenhäuser und andere Schutzeinrichtungen für Frauen. Schon seit einigen Jahren klebt in fast jeder U-Bahn ein Werbeschild, das sich an misshandelte Frauen richtet und Hilfe anbietet. Dementsprechend groß ist derzeit die Empörung der Menschen in dem Königreich, das als das emanzipierteste Land der Europäischen Union gilt (siehe Infokasten).
In den jüngsten Fällen wurden die Frauen zumeist von Liebhabern oder früheren Liebhabern ermordet. Auch die Corona-Pandemie
könne zu mehr Spannungen und körperlicher Gewalt beigetragen haben, warnte Jenny Westertrand vom Frauenschutzverband. Es werde immer schlimmer, sagte sie dem öffentlich-rechtlichen Sender YLE. Überrepräsentiert sind nach Medienberichten Männer mit ausländischem Hintergrund. Zumeist handele es sich nicht um Einwanderer der ersten Generation, sondern um deren Kinder, zitiert das linke schwedische Blatt „ETC“eine Studie. Inzwischen sind Frauenmorde und Gewalt gegenüber Frauen eins der wichtigsten Themen im Königreich geworden. „Es erfüllt mich mit Zorn“, sagte der sichtlich aufgebrachte sozialdemokratische Ministerpräsident Stefan Lövfen, der – wie er selbst sagt – eine „feministische Regierung“führt, der außer seinen Sozialdemokraten die Grünen angehören.
2020 gab es insgesamt 16.461 gemeldete Übergriffe auf Frauen in Schweden, die von deren Partnern verübt wurden. Seit dem Jahr 2019 entspreche das einer Steigerung um 15,4 Prozent, heißt es vom Rat zur Vorbeugung von Kriminalität. Seit 2000 wurden 315 Frauen von ihren Männern ermordet, ergab eine Durchsicht von Gerichtsakten durch die Zeitung „Aftonbladet“. Eine Beobachtung dabei: Die Gewalt der Männer steigere sich sehr langsam, bis es zu schwerwiegenden Übergriffen komme. Oft hätten die Frauen bereits Kontakt zu Hilfsorganisationen gehabt. Doch die gemeinsamen Kinder, wirtschaftliche Zwänge und auch die Angst vor ihren Männern bewegten die Frauen häufig zur Rückkehr, so die Experten. Auch sogenannte Ehrenmorde, bei denen Frauen von Familienmitgliedern ermordet werden, weil sie vermeintlich Schande über die eigene Familie gebracht haben, sind in diesem Zusammenhang ein wichtiges Thema in Schweden.