Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
„Hendrik Wüst war ein Scharfmacher“
Der SPD-Spitzenkandidat eröffnet den Landtagswahlkampf – Mitte Mai wird gewählt. Dem designierten Ministerpräsidenten legt er eine Kabinettsumbildung nahe.
Herr Kutschaty, wenn alles glatt läuft, wird Verkehrsminister Hendrik Wüst am Mittwoch im Landtag zum neuen Ministerpräsidenten gewählt. Was erwarten Sie von ihm in den ersten Tagen?
KUTSCHATY Als erstes erwarte ich von Hendrik Wüst eine Regierungserklärung, in der er sagt, was er in NRW vorhat. Bei der Gelegenheit muss er auch seine Mannschaft vorstellen: Mit dem Rücktritt des Ministerpräsidenten sind die Minister nur noch geschäftsführend im Amt und müssen neu vereidigt werden. Man darf gespannt sein, ob Hendrik Wüst das zum Anlass nimmt, um das Kabinett umzubilden. Die Regierung Laschet hat bei dem ein oder anderen Minister ja durchaus Schwachstellen.
An wen denken Sie?
KUTSCHATY Das muss Herr Wüst schon selbst erkennen, das ist nicht meine Aufgabe.
Sie kennen Hendrik Wüst schon aus seiner Zeit als CDU-Generalsekretär, wenig später wurden Sie NRWJustizminister. Trauen Sie ihm das Amt des Ministerpräsidenten zu? KUTSCHATY Ein Landesminister, der schon einige Jahre regiert hat, sollte über genug Erfahrung verfügen, um auch das Amt des Ministerpräsidenten zu übernehmen (lacht). Allerdings ist der Hendrik Wüst, den wir als Generalsekretär in Erinnerung haben, ein Scharfmacher gewesen, ein Polarisierer – und kein Landesvater, der Gegensätze zusammenbringen und versöhnen kann.
Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass CDU- und FDP-Fraktion im ersten Wahlgang geschlossen für Wüst stimmen?
KUTSCHATY Ich gehe davon aus, dass er die Mehrheit von 100 Abgeordnetenstimmen von CDU und FDP zusammenkriegt. Alles andere wäre eine faustdicke Überraschung, die es in sich hätte.
Was macht Sie so sicher? KUTSCHATY Sicher kann man da nicht sein. Es wirkt aber bestimmt disziplinierend auf das Abstimmungsverhalten der Regierungsfraktionen, dass Wüst sonst möglicherweise mit den Stimmen der AfD ins Amt gewählt würde. Ich hoffe, dass wir hier in NRW keine thüringischen Verhältnisse bekommen.
Lässt sich das Ergebnis der SPD bei der Bundestagswahl auf die Landtagswahl im Mai übertragen? KUTSCHATY Die Bundestagswahl hat der SPD in NRW einen ordentlichen Schub gegeben. Das macht sich jetzt auch bei den Umfragewerten für die Landtagswahl bemerkbar. Genau wie umgekehrt die schlechten Ergebnisse zuvor auch nicht nur hausgemacht waren – der Bundestrend zeigt sich eben im Guten wie im Schlechten. Jetzt gilt es, alles daranzusetzen, den Rückenwind aus Berlin auch für NRW zu nutzen. Die SPD kann die Landtagswahl gewinnen, vor ein paar Monaten sah die Welt noch anders aus. Deshalb beobachten wir das auch mit der nötigen Demut. Das Wichtigste dabei ist, dass wir die Sorgen und Nöte der Menschen in unserem Land in den Blick nehmen und aus Hoffnungen wieder Realität machen.
Wie?
KUTSCHATY Wir wollen im Wahlkampf vier Themen-Schwerpunkte setzen: bessere Bildung, die Arbeitswelt von morgen, eine verlässliche Gesundheitsversorgung und wieder mehr bezahlbaren Wohnraum schaffen. Um ein paar Beispiele zu nennen: Pro Grundschulkind gibt die Landesregierung so wenig Geld aus wie keine andere in Deutschland, obwohl es in NRW besonders viele arme Kinder gibt. Die Industrie müssen wir unbedingt hier halten und gleichzeitig klimaneutral umbauen, etwa durch die Produktion von grünem Stahl. Dazu schlagen wir einen Stabilitätsfonds in Höhe von 30 Milliarden Euro vor. Krankenhausschließungen, wie sie Gesundheitsminister Laumann plant, darf es nicht geben: Die Pandemie hat gezeigt, dass wir jedes Bett brauchen. Und auch bezahlbares Wohnen hat die Landesregierung vernachlässigt, es werden viel zu wenige Sozialwohnungen gebaut.
Sehen Sie Schnittmengen mit Grünen und FDP auch in NRW? KUTSCHATY Viele Themen, die wir gerade im Bund mit den Grünen und der FDP besprechen, spielen auch in NRW eine Rolle – und wir kommen in Berlin da gerade zu guten Ergebnissen. Außerdem sage ich schon seit Längerem, dass die NRWFDP in der Bildungspolitik mit der Einführung eines Sozialindex und Talentschulen in benachteiligten Vierteln sozialdemokratische Ansätze vertritt. Es müssten nur mehr Talentschulen sein als nur 60. Wir wollen 1000 Talentschulen in NRW.
Die Grünen fordern einen deutlich früheren Kohleausstieg als 2038.
Wird die SPD den Arbeitsplätzen im Braunkohlerevier weiter Vorrang geben vor dem Klimaschutz? KUTSCHATY Jeder weiß, dass der Kohleausstieg eher früher als später kommen muss. Uns ist dabei wichtig, dass es gute Perspektiven für die Beschäftigten und Versorgungssicherheit für die Industrie gibt. Wir müssen dann das Anpassungsgeld vorziehen, den Ausbau der erneuerbaren Energien viel schneller vorantreiben und den Strukturwandel beschleunigen, damit schneller alternative Arbeitsplätze entstehen. Da gibt es aber keine unüberbrückbaren Hindernisse für einen Konsens mit den Grünen.
Wenn das so einfach ist, warum hat die SPD dann nicht schon vor neun oder zehn Jahren in NRW einem schnelleren Kohleausstieg zugestimmt?
KUTSCHATY Es geht auch um die Frage der Energiesicherheit. Gleichzeitig aus Kohle- und Atomenergie auszusteigen, ohne dass die erneuerbaren Energien das kompensieren können, hätte nicht funktioniert. Deshalb konnten wir gar nicht früher raus aus der Kohle. Überdies gibt es jetzt einen großen gesellschaftlichen Konsens für Klimaschutz.
Sie leiten bei den Koalitionsverhandlungen die Gruppe „Moderner Staat und Demokratie“. Warum engagieren Sie sich im Bund, wenn hier der Wahlkampf hochläuft? KUTSCHATY Wir haben uns vorgenommen, die Koalitionsgespräche im Bund mit hohem Tempo zu führen. Keine Sorge, ich werde in NRW ausreichend präsent sein. Es ist aber gut, dass ich in Berlin mit am Tisch sitze: Was dort jetzt besprochen wird, ist auch für NRW von allergrößter Bedeutung.