Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
„Cringe“ist das Jugendwort des Jahres
Zum ersten Mal lag die Abstimmung über den Begriff in den Händen derer, die ihn auch verwenden. Ihre Wahl hätte treffender nicht sein können.
DÜSSELDORF Vermutlich hat so ziemlich jeder schon einmal „cringy“Sachen getan und das Gefühl erlebt. Vermutlich ist es auch schon „cringy“, dass Sie diesen Text lesen. Und dass in einer Zeitung darüber geschrieben wird, was das Wort bedeutet. Wörtlich heißt „cringe“– das Jugendwort des Jahres 2021 – so viel wie „zusammenzucken“oder „erschaudern“. Seine Bedeutung geht aber darüber hinaus. Es steht für Fremdschämen, Unangenehmes, Peinlichkeit – und was, wenn nicht Peinlichkeit steht für die Jugend? In der Pubertät ist einem vieles peinlich, worüber man später müde lächelt. Und: Wessen Kinder im Teenager-Alter sind, weiß, wie schnell man in ihren Augen peinlich ist.
Wer sich ein Bild von „cringe“machen will, findet mehr als genug Material im Internet. Sogenannte „Cringe Compilations“sind im Videoportal Tiktok sehr beliebt: Leute machen komische Sachen, man schämt sich ein bisschen fremd und freut sich heimlich, selbst nicht der Auslöser der Fremdscham zu sein. Der Mensch konstituiert sein Selbst nun einmal in der Abgrenzung zum anderen: Du bist cringe, ich bin's nicht.
Aber „cringe“ist mehr als Fremdscham. Es ist der Moment, in dem man den Blick abwendet, die Zähne zusammenbeißt und Scham körperlich spürt. Scham – und damit auch Fremdscham – hat immer etwas mit den Menschen um uns herum zu tun. Sie ist Ausdruck der Angst, vor anderen schlecht dazustehen.
Scham verhindert, dass wir Dinge tun, die andere negativ bewerten könnten. Das hätte im schlimmsten Fall den Ausschluss aus der Gruppe zur Folge. Doch der Mensch ist ein soziales Wesen, er funktioniert auf Dauer nicht alleine. Junge Menschen lernen dieses Spiel aus Individualität und Konformität. Wen wundert es, dass es elementar werden kann, wie peinlich man ist?
Gewählt wurde das Jugendwort des Jahres bisher nicht von Jugendlichen. Dieses Jahr waren sie es allerdings, die in mehreren Abstimmungen den Sieger gekürt haben. Die 1,2 Millionen Jugendlichen, die teilgenommen haben, wählten den Zweitplatzierten von 2020 dieses Mal an die Spitze. Vielleicht ist es das ehrlichste Jugendwort, das es jemals gab.