Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Gegen die Verschwendung
ANALYSE Die spanische Regierung will per Gesetz verhindern, dass zu viele Lebensmittel weggeworfen werden, und auch die Gastronomie stärker in die Pflicht nehmen. Warum die Idee besser klingt, als sie ist – auch für Deutschland.
Der Vorstoß klingt so sinnvoll wie überfällig, erst recht in Zeiten des Krieges in Europa, dessen Folgen mit der Inflation immer deutlicher zu spüren sind. Lebensmittelverschwendung unter Strafe zu stellen, so wie es Spaniens linke Regierung in einem entsprechenden Gesetzentwurf nun vorsieht, setzt bei einem Problem an, das im Grunde jedes Land hat. Und das in Teilen Europas auch schon staatlich angegangen wird. Trotzdem ist es nicht immer der richtige Weg, vor allem wenn es um das Geschäft der Gastronomie geht.
Ein Aspekt, den der spanische Minister für Landwirtschaft, Fischerei und Ernährung rechtlich durchsetzen will, ist, dass Restaurants und Kneipen ihrer Kundschaft kostenlose „Doggy-Bags“anbieten müssen. So soll vermieden werden, dass übrig gebliebene Speisen, sozusagen die Tellerreste der Gäste, weggeworfen werden müssen. Schweinetonne heißt es in der Gastro-Welt umgangssprachlich – in Anlehnung an die Art, wie früher Essensabfälle als Tierfutter weiterverwertet wurden.
Heute gibt es professionelle Speisereste-Entsorgungsdienste, die sich an strikte Gesetze und Hygienevorschriften halten müssen, Schweinepest und Vogelgrippe sei Dank. Aber auch, weil immer noch (zu) viel übrig bleibt. Mal weil die Portionen zu groß, mal die Geschmäcker verschieden sind. Ob kostenlose Take-away-Angebote das ändern würden, ist fraglich. Zum einen ist „zum Mitnehmen“auch ohne Gesetz fast überall bereits möglich, trotzdem macht nicht jeder Gebrauch davon, sei es aus Protz, Unbedachtheit oder falschem Schamgefühl. Zum anderen lässt sich in gegenteiligen Fällen längst nicht sagen, ob die Reste nicht dann doch im heimischen Mülleimer landen.
Dass in Privathaushalten die Lebensmittelverschwendung enorm ist, wurde – im Gegensatz zum Bereich Gastronomie – vielfach statistisch untersucht. In Spanien landen pro Kopf und Jahr durchschnittlich 30 Kilogramm Lebensmittel in der Tonne, in Deutschland sind es sogar doppelt so viel: Je nach Studie zwischen 55 und 80 Kilogramm pro Kopf jährlich. Die Hälfte aller Abfälle machen Obst, Gemüse sowie selbst Gekochtes; 14 Prozent sind Backwaren, elf Prozent Getränke und neun Prozent Milchprodukte. Das ging aus dem Ernährungsreport des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft 2018 hervor. Ist der Konsum eine Folge des Überangebotes? Vielleicht. Letztlich liegt die Entscheidung beim Verbraucher selbst, dem vermeintlich vernunftbegabten Wesen. Und bei der Entscheidung, Reste aus dem Restaurant mitzunehmen oder sich Verschiedenes zum Probieren zu bestellen (und vielleicht nicht zu verzehren), sollte sich der Staat nicht einmischen. Aber er kann woanders ansetzen, wie andere Länder zeigen. Italien etwa erließ schon 2016 ein Gesetz, wonach Unternehmen durch Anreize wie Steuererleichterungen dazu bewegt werden, weniger Lebensmittel zu verschwenden. Auch das Spenden von Lebensmitteln nach Überschreitung des Verkaufsdatums wurde erleichtert. Und in Frankreich drohen Supermärkten sogar Strafen, wenn sie unverkaufte, aber noch essbare Lebensmittel nicht an Hilfsorganisationen verschenken.
In Deutschland dagegen ist „Containern“nach wie vor strafbar. Wer Lebensmittel – in egal welch gutem Zustand – aus Mülltonnen von Supermärkten fischt, muss mit einer Strafanzeige wegen Diebstahls und Hausfriedensbruchs rechnen. Der Gesetzgeber dürfe grundsätzlich auch das Eigentum an wirtschaftlich wertlosen Sachen
„Wir werden steuerrechtliche Erleichterung für Spenden ermöglichen“aus dem Koalitionsvertrag der Bundesregierung
Verschwendung von Lebensmitteln
in ausgewählten Ländern weltweit in 2018 in 1000 Tonnen
USA strafrechtlich schützen, urteilte das Bundesverfassungsgericht 2020 über eine Verfassungsbeschwerde zweier Studentinnen aus Oberbayern.
Ansätze zur Ressourcenschonung gibt es in der Ampel-Regierung immerhin: Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir will dem Einzelhandel das Spenden nicht verkaufter Lebensmittel erleichtern, „damit nicht mehr so viel weggeworfen wird“, so der Grünen-Politiker im Januar und kritisierte die Strafbarkeit von „Containern“. Und im Koalitionsvertrag heißt es grob: „Wir werden gemeinsam mit allen Beteiligten die Lebensmittelverschwendung verbindlich branchenspezifisch reduzieren, haftungsrechtliche Fragen klären und steuerrechtliche Erleichterung für Spenden ermöglichen.“
Nicht alles muss von oben verordnet werden, Initiativen aus der Mitte zu forcieren, kann ein Weg sein. Aus Dänemark, Europas Land mit der geringsten Lebensmittelverschwendung, nimmt eine Initiative Fahrt auf: „Too good to go“heißt das 2015 gegründete Start-up mit gleichnamiger App, die in ganz Europa Ableger hat. In Deutschland machen nach Angaben des Unternehmens knapp 14.000 Betriebe mit – von großen Einzelhandelsketten über Hotelbetriebe bis hin zu kleineren Restaurants, Bars und Bäckereien. „Menschen zur richtigen Zeit, am richtigen Ort miteinander zu verbinden, um Food Waste zu reduzieren“, so das selbst ernannte Ziel, „das Win-Win-Win-Prinzip für Lebensmittel, Menschen und Umwelt steht im Zentrum all unserer Aktivitäten.“Nichts Geringeres als eine globale Bewegung gegen Verschwendung wolle man sein, was natürlich pathetisch klingt, aber im Prinzip zu funktionieren scheint. In zehn deutschen Städten – darunter Bochum, Bonn, Essen und Köln – können sich Hungrige überschüssige Portionen in Restaurants zu kleinen Preisen abholen. Das schont den Geldbeutel und erreicht aus Gastronomiesicht noch einmal eine ganz neue Zielgruppe. Und das ganz ohne „Doggy-Bag“-Pflicht.