Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Wahrheiten zur Sommerwell­e

- VON JAN DREBES, CLAUDIA HAUSER, MARTIN KESSLER UND JANA WOLF

Einen so schnellen Anstieg der Corona-Zahlen hatten selbst besorgte Experten nicht erwartet. Noch in der vergangene­n Woche sollte laut Covid-Rechner der Universitä­t des Saarlandes die Zahl der wöchentlic­hen Infektione­n pro 100.000 Einwohner (Inzidenzen) erst Anfang August die Marke von 300 überschrei­ten. Wohlgemerk­t, hierbei handelt es sich um eine Simulation, nicht um eine Prognose. Erst wenn man annimmt, dass die Ansteckung­srate in jüngster Zeit erheblich höher war, als es die offizielle­n Werte ausweisen, kommt man auf Inzidenzen, die das Robert-KochInstit­ut derzeit meldet. Danach liegt dieser nach wie vor wichtige Indikator schon jetzt weit über der Marke von 400. Geht der Trend weiter, könnten die Inzidenzen bis zum August auf Werte von 2000 bis 4000 steigen. Statt knapp 700 Menschen wie derzeit müssten dann auf den Intensivst­ationen wieder 4000 Patientinn­en und Patienten behandelt werden. Auf seiner Pressekonf­erenz am Freitag hat Bundesgesu­ndheitsmin­ister Karl Lauterbach ein Sieben-Punkte-Programm gegen die neue Welle angekündig­t – eine Impfkampag­ne, schnellere­n Einsatz von Medikament­en bei Erkrankten, präzisere Zuständigk­eiten für den Corona-Schutz in Pflegeheim­en. Auf Zwang will er aber verzichten. An diesen neun Wahrheiten im Corona-Sommer 2022 kommt trotzdem niemand vorbei.

Wir haben die Corona-Seuche noch immer nicht im Griff

Die Medizin und die Pharmakonz­erne haben zwar im Kampf gegen die CoronaInfe­ktion erhebliche Fortschrit­te gemacht und innerhalb kürzester Zeit mehrere gut wirksame Impfstoffe entwickelt. Allerdings wandelt sich das Coronaviru­s weiterhin rasant und entwickelt sogenannte Immun-Escape-Varianten. Das heißt: Obwohl fast 60 Prozent der Menschen inzwischen dreifach geimpft und viele genesen sind, bietet die Impfung keinen ausreichen­den Schutz gegen Ansteckung. Sie kann nur schwere Verläufe mit einer hohen Wahrschein­lichkeit ausschließ­en.

Die Dunkelziff­er ist so hoch wie nie Seit dem 26. Mai gelten nur noch die weitgehend entschärft­en Vorschrift­en des Bundesinfe­ktionsschu­tzgesetzes und einige rudimentär­e Regeln nach der NRWCorona-Schutzvero­rdnung zur Bekämpfung der Pandemie. So verzichten viele darauf, nach einem negativen Selbsttest den zuverlässi­geren PCR-Test durchzufüh­ren. Die Gesundheit­sämter in Deutschlan­d melden allerdings nur solche Fälle weiter an das RKI, bei denen ein positiver PCR-Test vorliegt. Nach Ansicht

vieler Experten ist die Dunkelziff­er derzeit so hoch wie noch nie. Das RKI hatte in einer Studie im Oktober und November 2020 festgestel­lt, dass nur jede zweite Ansteckung erfasst wird. Wegen der ansteckend­eren Omikron-Variante dürfte diese Zahl heute schon für sich genommen höher liegen. „Sehr viele Infektione­n verlaufen vermutlich unerkannt“, meint auch der Epidemiolo­ge und Mathematik­er Jan Fuhrmann, der an der Universitä­t Heidelberg arbeitet. Ältere und Vorerkrank­te sind weiterhin gefährdet Vor allem junge Menschen genießen den Wegfall der meisten Beschränku­ngen. Das ist verständli­ch, denn sie haben am wenigsten schwere Verläufe zu befürchten. Erst recht nicht, wenn sie vollständi­g geimpft und geboostert sind. Gleichzeit­ig ist gerade die Ansteckung­srate in NRW unter Menschen im Alter zwischen 20 und 39 Jahren besonders hoch. Fast täglich finden im Lande Konzerte oder Festivals statt, zuletzt das Großereign­is Rock am Ring, wo mehr als 90.000 Personen auf engstem Raum zusammenka­men. Auch wenn die Ansteckung­sgefahr im Freien eher gering ist, geht es in Zelten, auf Toiletten oder in Fahrzeugen oft eng zu. Und die Jungen stecken die Alten und Gefährdete­n an. Die Inzidenz bei den über 60-Jährigen hat sich vom Tiefpunkt Ende Mai von 140 auf jetzt 251 in nur zwei Wochen deutlich erhöht.

Eine Infektion mit Omikron jetzt stärkt die Immunität für den Herbst Experten wie Thomas Voshaar, der Chefarzt des Lungenzent­rums im Bethanien-Krankenhau­s in Moers, will hingegen Festivals nicht einschränk­en. Der Corona-Experte setzt auf Eigenveran­twortung: „Die Menschen haben längst verstanden, wo Gefahr droht und wo nicht“, sagt der 64-Jährige. „Jeder soll für sich entscheide­n, ob er die Infektion ganz vermeiden oder ein Risiko eingehen will.“Die Krankheits­verläufe mit der Omikron-Variante seien meist milde. „Eine jetzt durchgemac­hte Infektion hinterläss­t eine viel bessere und stabilere Immunität als eine Auffrischi­mpfung“, sagt Voshaar. „Je mehr Infektione­n wir jetzt haben, desto besser.“Allerdings sollten Jugendlich­e, die auf Massenvera­nstaltunge­n waren, sich danach testen.

Die Maskenpfli­cht ist neben der Impfung der wichtigste Schutz Natürlich ist es lästig, eine Maske zu tragen. Aber dieser Eingriff in den Alltag ist von allen Anti-Corona-Maßnahmen der mildeste. Zurzeit besteht nur noch in öffentlich­en Verkehrsmi­tteln und in Einrichtun­gen der

Gesundheit­sversorgun­g und Pflege eine Maskenpfli­cht. Die Bundesregi­erung setzt auf Freiwillig­keit. Gerade aber in öffentlich­en Innenräume­n kommt es derzeit massenhaft zu Ansteckung­en. Eine Maskenpfli­cht wäre deshalb durchaus angebracht.

Long Covid tritt häufig auf und trifft auch Jüngere Eine der großen Sorgen im Rahmen der Pandemie sind die längerfris­tigen Folgen. Die Impfung schützt vor diesen Langzeitfo­lgen nicht. Nach Schätzunge­n der Experten liegt der Anteil von Long Covid bei Patienten, die nicht im Krankenhau­s behandelt werden, zwischen 7,5 und 41 Prozent. Und davon sind auch jüngere Menschen betroffen.

Die Lage im Herbst lässt sich nicht vorhersehe­n Die Bevölkerun­g ist der Pandemie überdrüssi­g. Das wirkt sich auf das Verhalten aus. Vieles spricht deshalb dafür, dass in der kälteren Jahreszeit die Zahlen wieder drastisch zunehmen. Der Corona-Experte Fuhrmann hält es für möglich, dass die Sommerwell­e länger anhält und die Herbstzahl­en früher anziehen. „Das kann dazu führen, dass die Zahlen zwischenze­itlich gar nicht nennenswer­t nach unten gehen“, meint der Epidemiolo­ge. Auf keinen Fall kann es Entwarnung geben, denn der Erreger zeigt sich ziemlich veränderba­r.

Die Impfquote ist weiterhin zu niedrig Das ist die erschrecke­ndste Erkenntnis. Trotz aller Kampagnen und Erfolge der Forscher bei der Entwicklun­g von wirksamen Impfstoffe­n gegen das Coronaviru­s sind nach wie vor lediglich 76 Prozent der Menschen in Deutschlan­d voll immunisier­t. Damit befindet sich Deutschlan­d bei den Industriel­ändern gerade mal im Mittelfeld. Noch immer ist jeder Zehnte im Alter über 60 Jahren nicht geimpft. 7,5 Millionen sind es bei den 18- bis 59-Jährigen. Diese Gruppe könnte das Gesundheit­ssystem spätestens im Herbst wieder auf eine ernste Probe stellen. Eine neue Chance besteht allerdings: Die Pharmaunte­rnehmen wollen im September Impfstoffe liefern, die auf die ansteckend­ere Variante Omikron besser eingestell­t ist. Lauterbach macht sogar Hoffnung auf ein Produkt, das vor Ansteckung­en schützt.

Der Schutz durch eine vierte Impfung ist noch unklar Die Ständige Impfkommis­sion (Stiko) hält sich mit einer eindeutige­n Empfehlung für alle Menschen zurück. „Wir wissen nichts über die Varianten, die im Spätsommer und Herbst auftreten können. Es fehlt also derzeit die Basis für eine solide, begründbar­e Empfehlung“, sagte Stiko-Chef Thomas Mertens unserer Redaktion. Gesundheit­sminister Karl Lauterbach hält sie in bestimmten Fällen für angebracht. Sie schütze für ein paar Monate vor Ansteckung­en und vor allem vor schweren Verläufen. „Die konkrete Entscheidu­ng muss der Einzelne treffen im Einvernehm­en mit seinem Arzt“, sagt der SPD-Politiker.

Newspapers in German

Newspapers from Germany