Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Wahrheiten zur Sommerwelle
Einen so schnellen Anstieg der Corona-Zahlen hatten selbst besorgte Experten nicht erwartet. Noch in der vergangenen Woche sollte laut Covid-Rechner der Universität des Saarlandes die Zahl der wöchentlichen Infektionen pro 100.000 Einwohner (Inzidenzen) erst Anfang August die Marke von 300 überschreiten. Wohlgemerkt, hierbei handelt es sich um eine Simulation, nicht um eine Prognose. Erst wenn man annimmt, dass die Ansteckungsrate in jüngster Zeit erheblich höher war, als es die offiziellen Werte ausweisen, kommt man auf Inzidenzen, die das Robert-KochInstitut derzeit meldet. Danach liegt dieser nach wie vor wichtige Indikator schon jetzt weit über der Marke von 400. Geht der Trend weiter, könnten die Inzidenzen bis zum August auf Werte von 2000 bis 4000 steigen. Statt knapp 700 Menschen wie derzeit müssten dann auf den Intensivstationen wieder 4000 Patientinnen und Patienten behandelt werden. Auf seiner Pressekonferenz am Freitag hat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach ein Sieben-Punkte-Programm gegen die neue Welle angekündigt – eine Impfkampagne, schnelleren Einsatz von Medikamenten bei Erkrankten, präzisere Zuständigkeiten für den Corona-Schutz in Pflegeheimen. Auf Zwang will er aber verzichten. An diesen neun Wahrheiten im Corona-Sommer 2022 kommt trotzdem niemand vorbei.
Wir haben die Corona-Seuche noch immer nicht im Griff
Die Medizin und die Pharmakonzerne haben zwar im Kampf gegen die CoronaInfektion erhebliche Fortschritte gemacht und innerhalb kürzester Zeit mehrere gut wirksame Impfstoffe entwickelt. Allerdings wandelt sich das Coronavirus weiterhin rasant und entwickelt sogenannte Immun-Escape-Varianten. Das heißt: Obwohl fast 60 Prozent der Menschen inzwischen dreifach geimpft und viele genesen sind, bietet die Impfung keinen ausreichenden Schutz gegen Ansteckung. Sie kann nur schwere Verläufe mit einer hohen Wahrscheinlichkeit ausschließen.
Die Dunkelziffer ist so hoch wie nie Seit dem 26. Mai gelten nur noch die weitgehend entschärften Vorschriften des Bundesinfektionsschutzgesetzes und einige rudimentäre Regeln nach der NRWCorona-Schutzverordnung zur Bekämpfung der Pandemie. So verzichten viele darauf, nach einem negativen Selbsttest den zuverlässigeren PCR-Test durchzuführen. Die Gesundheitsämter in Deutschland melden allerdings nur solche Fälle weiter an das RKI, bei denen ein positiver PCR-Test vorliegt. Nach Ansicht
vieler Experten ist die Dunkelziffer derzeit so hoch wie noch nie. Das RKI hatte in einer Studie im Oktober und November 2020 festgestellt, dass nur jede zweite Ansteckung erfasst wird. Wegen der ansteckenderen Omikron-Variante dürfte diese Zahl heute schon für sich genommen höher liegen. „Sehr viele Infektionen verlaufen vermutlich unerkannt“, meint auch der Epidemiologe und Mathematiker Jan Fuhrmann, der an der Universität Heidelberg arbeitet. Ältere und Vorerkrankte sind weiterhin gefährdet Vor allem junge Menschen genießen den Wegfall der meisten Beschränkungen. Das ist verständlich, denn sie haben am wenigsten schwere Verläufe zu befürchten. Erst recht nicht, wenn sie vollständig geimpft und geboostert sind. Gleichzeitig ist gerade die Ansteckungsrate in NRW unter Menschen im Alter zwischen 20 und 39 Jahren besonders hoch. Fast täglich finden im Lande Konzerte oder Festivals statt, zuletzt das Großereignis Rock am Ring, wo mehr als 90.000 Personen auf engstem Raum zusammenkamen. Auch wenn die Ansteckungsgefahr im Freien eher gering ist, geht es in Zelten, auf Toiletten oder in Fahrzeugen oft eng zu. Und die Jungen stecken die Alten und Gefährdeten an. Die Inzidenz bei den über 60-Jährigen hat sich vom Tiefpunkt Ende Mai von 140 auf jetzt 251 in nur zwei Wochen deutlich erhöht.
Eine Infektion mit Omikron jetzt stärkt die Immunität für den Herbst Experten wie Thomas Voshaar, der Chefarzt des Lungenzentrums im Bethanien-Krankenhaus in Moers, will hingegen Festivals nicht einschränken. Der Corona-Experte setzt auf Eigenverantwortung: „Die Menschen haben längst verstanden, wo Gefahr droht und wo nicht“, sagt der 64-Jährige. „Jeder soll für sich entscheiden, ob er die Infektion ganz vermeiden oder ein Risiko eingehen will.“Die Krankheitsverläufe mit der Omikron-Variante seien meist milde. „Eine jetzt durchgemachte Infektion hinterlässt eine viel bessere und stabilere Immunität als eine Auffrischimpfung“, sagt Voshaar. „Je mehr Infektionen wir jetzt haben, desto besser.“Allerdings sollten Jugendliche, die auf Massenveranstaltungen waren, sich danach testen.
Die Maskenpflicht ist neben der Impfung der wichtigste Schutz Natürlich ist es lästig, eine Maske zu tragen. Aber dieser Eingriff in den Alltag ist von allen Anti-Corona-Maßnahmen der mildeste. Zurzeit besteht nur noch in öffentlichen Verkehrsmitteln und in Einrichtungen der
Gesundheitsversorgung und Pflege eine Maskenpflicht. Die Bundesregierung setzt auf Freiwilligkeit. Gerade aber in öffentlichen Innenräumen kommt es derzeit massenhaft zu Ansteckungen. Eine Maskenpflicht wäre deshalb durchaus angebracht.
Long Covid tritt häufig auf und trifft auch Jüngere Eine der großen Sorgen im Rahmen der Pandemie sind die längerfristigen Folgen. Die Impfung schützt vor diesen Langzeitfolgen nicht. Nach Schätzungen der Experten liegt der Anteil von Long Covid bei Patienten, die nicht im Krankenhaus behandelt werden, zwischen 7,5 und 41 Prozent. Und davon sind auch jüngere Menschen betroffen.
Die Lage im Herbst lässt sich nicht vorhersehen Die Bevölkerung ist der Pandemie überdrüssig. Das wirkt sich auf das Verhalten aus. Vieles spricht deshalb dafür, dass in der kälteren Jahreszeit die Zahlen wieder drastisch zunehmen. Der Corona-Experte Fuhrmann hält es für möglich, dass die Sommerwelle länger anhält und die Herbstzahlen früher anziehen. „Das kann dazu führen, dass die Zahlen zwischenzeitlich gar nicht nennenswert nach unten gehen“, meint der Epidemiologe. Auf keinen Fall kann es Entwarnung geben, denn der Erreger zeigt sich ziemlich veränderbar.
Die Impfquote ist weiterhin zu niedrig Das ist die erschreckendste Erkenntnis. Trotz aller Kampagnen und Erfolge der Forscher bei der Entwicklung von wirksamen Impfstoffen gegen das Coronavirus sind nach wie vor lediglich 76 Prozent der Menschen in Deutschland voll immunisiert. Damit befindet sich Deutschland bei den Industrieländern gerade mal im Mittelfeld. Noch immer ist jeder Zehnte im Alter über 60 Jahren nicht geimpft. 7,5 Millionen sind es bei den 18- bis 59-Jährigen. Diese Gruppe könnte das Gesundheitssystem spätestens im Herbst wieder auf eine ernste Probe stellen. Eine neue Chance besteht allerdings: Die Pharmaunternehmen wollen im September Impfstoffe liefern, die auf die ansteckendere Variante Omikron besser eingestellt ist. Lauterbach macht sogar Hoffnung auf ein Produkt, das vor Ansteckungen schützt.
Der Schutz durch eine vierte Impfung ist noch unklar Die Ständige Impfkommission (Stiko) hält sich mit einer eindeutigen Empfehlung für alle Menschen zurück. „Wir wissen nichts über die Varianten, die im Spätsommer und Herbst auftreten können. Es fehlt also derzeit die Basis für eine solide, begründbare Empfehlung“, sagte Stiko-Chef Thomas Mertens unserer Redaktion. Gesundheitsminister Karl Lauterbach hält sie in bestimmten Fällen für angebracht. Sie schütze für ein paar Monate vor Ansteckungen und vor allem vor schweren Verläufen. „Die konkrete Entscheidung muss der Einzelne treffen im Einvernehmen mit seinem Arzt“, sagt der SPD-Politiker.