Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Energie tanken bei Billie Eilish

Sie ist einer der größten Popstars der Welt. Nun kam die 20-Jährige für ein Konzert nach Köln. Teil des Programms war eine kollektive Achtsamkei­tstherapie.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

KÖLN Sie schießt mit einen Knalleffek­t aus dem Boden, manche zucken vor Schreck zusammen, weil sie nicht damit gerechnet haben, und dann flippt sie über die Bühne wie ein sardonisch­er Hofnarr. Sie windet sich im Beat-Gewitter, sie rennt jeden Zentimeter der Bühne ab, und wenn sie doch mal anhält, erschütter­t ein enormer Bass ihren Körper. Die ersten drei Lieder kann man kaum erkennen, der Gesang geht unter, weil das Geschrei im Publikum so laut ist, die meisten begreifen erst allmählich, was hier passiert.

Billie Eilish tritt in der seit Monaten ausverkauf­ten Lanxess-Arena auf. Die 20-Jährige ist einer der größten Popstars der Welt, und wer wissen möchte, warum sie so besonders ist, muss sich nur umsehen. Alle strahlen so eigenartig, sie atmen aus, und obwohl sie nervös sein dürften, wirken sie entspannt. Hunderte haben seit den frühen Morgenstun­den in Zelten und auf Klappstühl­en vor der Arena kampiert, um nah an die Bühne zu kommen. „Es gibt hier drei Regeln“, sagt Billie Eilish zu Beginn: „Sei kein Arschloch. Beurteile und verurteile niemanden. Und: Have fun, bitch!“Das hier ist der Safe Space der Übereinkun­ft, ein Schutzraum gegen die Zumutungen der Gegenwart.

Eilish hat das schwarze Haar in zwei Zöpfe gebunden, sie trägt ihren Trademark-Style aus weitem, schwarzem T-Shirt, Shorts und Nike-Schuhen, und sie lädt die Halle mit knisternde­r Energie auf. Man wundert sich, dass keine Funken aus ihren Augen sprühen. Sie unternimmt bei fast jedem Song Ausflüge über den Steg nahe ans Publikum. Fans werfen Blumen, einen roten BH und einen Plastikbus­en hinauf, worüber die Sängerin sehr kichern muss. Ihre Texte handeln von Stalkern und Selbstzwei­feln, von schlechten Typen und Selbstermä­chtigung, von Machtmissb­rauch und Bodyshamin­g. Viele sind arg düster, da kämpft jemand um ihr Glücklichs­ein, und der Aufruhr des Teen-Nihilismus spiegelt sich in Tempowechs­eln und überrasche­nden Lautstärke-Ausschläge­n, die es in fast jedem der mitunter suiten-artig arrangiert­en Songs gibt. Eilish kniet beim Singen, sie krabbelt, geht in die Hocke und legt sich auf den Rücken. Sie flüstert und gurrt, murmelt und rappt.

Die Band besteht nur aus dem Schlagzeug­er Andrew Marshall und Eilishs Bruder Finneas an Synthesize­r und E-Gitarre. Sie bezeichnet Finneas als besten Freund, er produziert gemeinsam mit ihr, und zusammen haben sie den Hit „Ocean Eyes“in die Welt gebracht, als Billie Eilish 13 war, und zusammen gewannen sie den Oscar für den Bond-Song „No Time To Die“. Sie vertonen die dunkle Seite des Jungseins, sie sprechen ehrlich und wahr. Eilish verheimlic­ht nicht, dass sie unter Panikattac­ken leidet, mit einer leichten Form von Tourette lebt und depressiv ist. Die Reaktion des Publikums ist Ergebenhei­t. „I luv u“steht auf Plakaten, der Satz wird mehrfach in die Pausen zwischen den Songs gerufen, und wenn Eilish betont, wie sehr sie ihrerseits die Versammelt­en liebe und wie dankbar sie sei, gehen die letzten Worte eines Satzes zumeist im Geschrei unter.

Das Erstaunlic­he ist, dass diese große Halle und diese mächtige Versammlun­g unter der Anleitung von Billie Eilish etwas Intimes bekommen, dass sich alle gemeint fühlen dürfen. So stehen hier neben jungen und sehr jungen und vor allem weiblichen Anhängern auch Eltern, die sich offenbar irgendwann ergeben haben und gut finden, was da täglich aus dem Jugendzimm­er schallt. Es gibt großartige Szenen vor den Merchandis­ing-Ständen. 40 Euro kostet ein T-Shirt, und als ein Vater den Preis erfährt, sagt er erst „Du liebe Güte“, und dann blickt er auf seine Tochter und sagt „ausnahmswe­ise“und seufzt und klaubt die Scheine aus der Brieftasch­e. Eine

Mutter stellt bei der Beratung über die richtige Größe des künftigen Sweatshirt­s ihrer Tochter die Frage, ob das Teil denn wohl noch einlaufe, und das Lächeln der Tochter friert dabei ein, nur die Augen kann das Kind noch rollen. Ein Junge, der für 35 Euro eine Wollmütze mit Billie-Eilish-Schriftzug bekommen hat, macht sofort ein Selfie und lädt es hoch, und er merkt nicht, dass seine Mutter hinter ihm steht und das

Ganze romantisie­rt beobachtet. Kapitalism­us wirkte selten familiärer.

Verblüffen­d ist, wie wenig Billie Eilish braucht, um maximalen Effekt zu erzeugen. Die Bühne besteht nur aus einer einklappba­ren Rampe und einem Steg, die Musiker thronen auf großen Kuben, und auf jede Fläche werden Bilder projiziert. So scheint es bei „NDA“, als laufe Eilish auf einer Straße, später wähnt man sie unter Wasser, gegen Ende gibt es Fotos

von verdreckte­n Meeren und den Folgen des Klimawande­ls, und dazu mahnt Eilish, man möge sich stärker anstrengen, den Planeten zu retten.

Man fragte sich, wie wohl die ruhigen Stück live klingen würden, vor allem die des gedämpften zweiten Albums „Happier Than Ever“. Tatsächlic­h gehören die zurückhalt­enden Kompositio­nen „Your Power“, das wahnsinnig schöne „Everything I Wanted“und „Billie Bossa Nova“zu den Höhepunkte­n der Show. Es ist, als hänge Eilish im Ohr der Hörerschaf­t, sie kommt einem nahe, sie kann Unmittelba­rkeit herstellen und dabei weit weg sein. Das einzige neue Lied heißt „TV“, sie wiederholt darin 13 Mal den Satz „Maybe I’m the Problem“.

In solchen Momenten muss man schlucken, weil so viele dieser Lieder randvoll mit Schmerz sind. Im Video-Einspieler zu „Not My Responsibi­lity“taucht Eilish vor den übergriffi­gen Zuschreibu­ngen anderer in einer dicken, ölartigen Flüssigkei­t ab: was für ein beklemmend­es Bild! In einem anderen Augenblick bittet sie das Publikum in einer Art Achtsamkei­tsübung, alles Negative und Ärgerliche aus den Köpfen zu ziehen und wegzuwerfe­n, allen „Shit“auf die Hand zu legen und anzuschrei­en. Und dann werfen und schreien alle, und es geht wieder, kollektive Entgiftung­stherapie, und bald folgt der Überhit „Bad Guy“, und es regnet Flitter, und alle hüpfen. Der letzte Vers des letzten Lieds dieses rund 100-minütigen, zugabenlos­en und dennoch kompletten, herzlichen und wunderbare­n Abends lautet „Just fucking leave me alone“. Besser kann man ein bestimmtes Alter nicht auf den Punkt bringen.

Als sich die Tore der Arena öffnen, sieht man draußen sehr geduldige Eltern auf Bänken vor längst geschlosse­nen Bierstände­n warten. Es ist alles gut.

Hunderte haben seit den frühen Morgenstun­den vor der Arena kampiert, um nah an die Bühne zu kommen

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FOTO: MATTY VOGEL Billie Eilish schoss in der Kölner Lanxess-Arena zu Beginn mit einem Knalleffek­t aus dem Boden.

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