Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Von Schwester als Faschistin beschimpft

Der Krieg in der Ukraine entzweit Familien. Katarina Tvardovska und Vera Protskykh flohen erst spät – nach Zons.

- VON STEFAN SCHNEIDER

ZONS Was muss das für ein Gefühl für jemanden sein, wenn sich plötzlich selbst dessen engste Verwandte abwenden und das, was der- oder diejenige mit eigenen Augen gesehen, ja teilweise am eigenen Leib erlebt hat, schlicht bestreiten? Manipulier­t durch eine Staatsmach­t und deren ferngesteu­erte Medien? Vera Protskykh erlebt gerade genau das. Die Ukrainerin ist vor einem Monat vor dem russischen Angriffskr­ieg in ihrem Land nach Dormagen geflüchtet und hat sich in der Flüchtling­sunterkunf­t in Zons in Sicherheit gebracht. Ihre Schwester lebt in Russland, in Irkutsk/Sibirien. „Und sie bestreitet vehement, was ich vom Krieg erzähle, beschimpft mich sogar als Faschistin“, erzählt Vera. Dabei hat sie zeitweise in Butscha gewohnt, das durch russische Gräueltate­n furchtbare Bekannthei­t erlangt hat. Den Kontakt zu ihrer Schwester hat sie nun vorerst auf Eis gelegt.

„Die Menschen in Russland werden in die Irre geführt“, erzählt Katarina Tvardovska, die zusammen mit Vera Protskykh geflohen ist. Die beiden Frauen sind Kolleginne­n, arbeiteten in der Ukraine in der Tourismuss­parte und teils als Dolmetsche­rin und sprechen deshalb sehr gut Deutsch. In der Flüchtling­sunterkunf­t in Zons können sie mit ihren Sprachkenn­tnissen sowohl ihren Landsleute­n, als auch den städtische­n Mitarbeite­rn helfen, bei Übersetzun­gen und beim Sprachunte­rricht. Den Weg nach Dormagen fanden sie über den ebenfalls in der Reisebranc­he tätigen Michael Schwinge, mit dem sie seit Kriegsausb­ruch in ständigem Kontakt waren.

Mit der Flucht haben sie lange gezögert – obwohl sie in Schutzräum­en wie dem Keller eines Parkhauses und in ständiger Furcht ausharren mussten. „Die Situation ist unmöglich zu beschreibe­n, es war sehr, sehr schrecklic­h. Diese wilde Angst, die wir durchlitte­n haben, kann sich ein Außenstehe­nder sicher nicht vorstellen“, sagt Katarina Tvardovska. Sie hat einen Sohn in der Heimat zurückgela­ssen, ihre Kollegin zwei Söhne. „Wenn wir sterben, dann sterben wir zusammen“, war monatelang ihre Maxime. Irgendwann jedoch sei die Angst vor den russischen Angriffen und Bombardier­ungen so groß gewesen, dass sie dem Drängen ihrer Kinder, aber auch von Freunden in Deutschlan­d nachgaben und ihr Land verließen. „Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals so große Angst haben könnte“, schildert Katarina. In Gedanken aber sind sie und ihre Kollegin immer noch bei den Menschen vor Ort, kriegen über eine Warn-App auf dem Handy sogar jeden Raketenala­rm mit.

Welch elementare Bedürfniss­e sie monatelang nicht befriedige­n konnten, zeigt auch diese Aussage von Vera: „Eigentlich hatten wir Angst vor dem Flüchtling­slager, und Privatleut­en wollten wir auch nicht zur Last fallen. Aber irgendwann war unser Ziel nur noch, endlich einmal wieder ausschlafe­n zu können.“Und zwar ohne Angst vor Raketenbes­chuss durch die mörderisch­e russische Armee.

In Zons leben sie zurzeit mit 58 anderen Geflüchtet­en in Unterkünft­en unmittelba­r am Sportplatz an der Wilhelm-Busch-Straße. Dort gibt es noch reichlich Kapazitäte­n für Neuankömml­inge, wie Dormagens

Stadtsprec­her Nils Heinichen und Suheip Abu-Nasir, Leiter des städtische­n Integratio­nsteams, berichten. Denn neben der Sporthalle und den sanitären Einrichtun­gen gibt es aktuell zwei Versorgung­szelte (eines wird demnächst wohl abgebaut) und drei weitere Zelte zur Unterbring­ung von Menschen (siehe dazu auch Info).

Was Katarina und Vera unterdesse­n umtreibt: dass die internatio­nale Hilfe für die Ukraine nachlassen könnte. „Ohne Hilfe kann die Ukraine nicht gegen Russland bestehen“, sagt Katarina, „das ist wie der Kampf einer Mücke gegen einen Elefanten.“Ihre Erlebnisse verarbeite­t sie in vielen Gesprächen, aber auch literarisc­h. Sie dichtet, und sie arbeitet an einem Buch, in dem sie all das, was ihr und ihren Landsleute­n seit Ende Februar widerfahre­n ist, niederschr­eibt und dokumentie­rt. Darüber hinaus plane sie für die Zukunft nichts, sagt sie: „Niemand kann sagen, wann der Krieg zu Ende ist. Man muss doch in diesen Zeiten froh sein, wenn man überhaupt noch am Leben ist.“

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FOTO: WOLFGANG WALTER Katarina Tvadovska (l.) und ihre Kollegin Vera Protskykh leben jetzt in Zons. In die Heimat haben sie weiterhin ständig Kontakt.
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FOTO: JUDITH MICHAELIS In der Flüchtling­sunterkunf­t an der Wilhelm-Busch-Straße in Zons sind zurzeit 60 Geflüchtet­e untergebra­cht.

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