Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Von Schwester als Faschistin beschimpft
Der Krieg in der Ukraine entzweit Familien. Katarina Tvardovska und Vera Protskykh flohen erst spät – nach Zons.
ZONS Was muss das für ein Gefühl für jemanden sein, wenn sich plötzlich selbst dessen engste Verwandte abwenden und das, was der- oder diejenige mit eigenen Augen gesehen, ja teilweise am eigenen Leib erlebt hat, schlicht bestreiten? Manipuliert durch eine Staatsmacht und deren ferngesteuerte Medien? Vera Protskykh erlebt gerade genau das. Die Ukrainerin ist vor einem Monat vor dem russischen Angriffskrieg in ihrem Land nach Dormagen geflüchtet und hat sich in der Flüchtlingsunterkunft in Zons in Sicherheit gebracht. Ihre Schwester lebt in Russland, in Irkutsk/Sibirien. „Und sie bestreitet vehement, was ich vom Krieg erzähle, beschimpft mich sogar als Faschistin“, erzählt Vera. Dabei hat sie zeitweise in Butscha gewohnt, das durch russische Gräueltaten furchtbare Bekanntheit erlangt hat. Den Kontakt zu ihrer Schwester hat sie nun vorerst auf Eis gelegt.
„Die Menschen in Russland werden in die Irre geführt“, erzählt Katarina Tvardovska, die zusammen mit Vera Protskykh geflohen ist. Die beiden Frauen sind Kolleginnen, arbeiteten in der Ukraine in der Tourismussparte und teils als Dolmetscherin und sprechen deshalb sehr gut Deutsch. In der Flüchtlingsunterkunft in Zons können sie mit ihren Sprachkenntnissen sowohl ihren Landsleuten, als auch den städtischen Mitarbeitern helfen, bei Übersetzungen und beim Sprachunterricht. Den Weg nach Dormagen fanden sie über den ebenfalls in der Reisebranche tätigen Michael Schwinge, mit dem sie seit Kriegsausbruch in ständigem Kontakt waren.
Mit der Flucht haben sie lange gezögert – obwohl sie in Schutzräumen wie dem Keller eines Parkhauses und in ständiger Furcht ausharren mussten. „Die Situation ist unmöglich zu beschreiben, es war sehr, sehr schrecklich. Diese wilde Angst, die wir durchlitten haben, kann sich ein Außenstehender sicher nicht vorstellen“, sagt Katarina Tvardovska. Sie hat einen Sohn in der Heimat zurückgelassen, ihre Kollegin zwei Söhne. „Wenn wir sterben, dann sterben wir zusammen“, war monatelang ihre Maxime. Irgendwann jedoch sei die Angst vor den russischen Angriffen und Bombardierungen so groß gewesen, dass sie dem Drängen ihrer Kinder, aber auch von Freunden in Deutschland nachgaben und ihr Land verließen. „Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals so große Angst haben könnte“, schildert Katarina. In Gedanken aber sind sie und ihre Kollegin immer noch bei den Menschen vor Ort, kriegen über eine Warn-App auf dem Handy sogar jeden Raketenalarm mit.
Welch elementare Bedürfnisse sie monatelang nicht befriedigen konnten, zeigt auch diese Aussage von Vera: „Eigentlich hatten wir Angst vor dem Flüchtlingslager, und Privatleuten wollten wir auch nicht zur Last fallen. Aber irgendwann war unser Ziel nur noch, endlich einmal wieder ausschlafen zu können.“Und zwar ohne Angst vor Raketenbeschuss durch die mörderische russische Armee.
In Zons leben sie zurzeit mit 58 anderen Geflüchteten in Unterkünften unmittelbar am Sportplatz an der Wilhelm-Busch-Straße. Dort gibt es noch reichlich Kapazitäten für Neuankömmlinge, wie Dormagens
Stadtsprecher Nils Heinichen und Suheip Abu-Nasir, Leiter des städtischen Integrationsteams, berichten. Denn neben der Sporthalle und den sanitären Einrichtungen gibt es aktuell zwei Versorgungszelte (eines wird demnächst wohl abgebaut) und drei weitere Zelte zur Unterbringung von Menschen (siehe dazu auch Info).
Was Katarina und Vera unterdessen umtreibt: dass die internationale Hilfe für die Ukraine nachlassen könnte. „Ohne Hilfe kann die Ukraine nicht gegen Russland bestehen“, sagt Katarina, „das ist wie der Kampf einer Mücke gegen einen Elefanten.“Ihre Erlebnisse verarbeitet sie in vielen Gesprächen, aber auch literarisch. Sie dichtet, und sie arbeitet an einem Buch, in dem sie all das, was ihr und ihren Landsleuten seit Ende Februar widerfahren ist, niederschreibt und dokumentiert. Darüber hinaus plane sie für die Zukunft nichts, sagt sie: „Niemand kann sagen, wann der Krieg zu Ende ist. Man muss doch in diesen Zeiten froh sein, wenn man überhaupt noch am Leben ist.“