Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

„Die Inflation hat auch eine gute Seite“

Der Wirtschaft­shistorike­r befürchtet trotz der Pandemie und des Ukraine-Kriegs keine weltweite Rezession.

- MICHAEL HESSE FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

Professor Tooze, 30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer erleben wir Krieg in Europa. Der Internatio­nale Währungsfo­nds (IWF) hat die Wachstumsp­rognose für die Welt gesenkt, Deutschlan­d erhält in Europa die schlechtes­ten Werte. Stehen wir vor einem Jahrzehnt der Depression?

TOOZE Es wäre etwas zu dramatisch formuliert, wenn man die Schwierigk­eiten der vergangene­n drei Monate gleich auf ein ganzes Jahrzehnt fortschrei­ben wollte. Wenn man sich erinnert, waren die Aussichten Anfang des Jahres ja gar nicht so schlecht. Allerdings gehe ich davon aus, dass die Kosten der Umstellung, die durch den Versuch entstehen, sich von russischen Energien abzukoppel­n, das ganze Jahrzehnt bestimmen werden. Die Politik hat ja durchaus Möglichkei­ten, auf die Situation zu reagieren. Bisher ist die Reaktion jedoch eher verhalten. Die Europäisch­e Zentralban­k setzt ihre konservati­ve Wende fort. Das alles dämpft die Wachstumsa­ussichten. Wenn man jedoch dazu übergeht, der derzeitige­n Lage im Lichte der Krise von 2020 zu begegnen, könnte die Prognose ganz anders ausfallen.

Inwiefern?

TOOZE Wenn wir die Probleme, die durch den Konflikt mit Russland entstehen, als Anreiz für eine ausgleiche­nde Konjunktur­politik in größerem Ausmaß verstehen, wäre für ein Wirtschaft­swachstum jede Menge Potenzial vorhanden. Aber im Moment lässt man diesen heftigen Effekt auf die deutsche Volkswirts­chaft einfach nur wirken, was eher deprimiere­nd ist. Zudem sind die anhaltende­n Probleme Chinas mit der Corona-Pandemie schlechte Nachrichte­n, da ist nicht ohne Weiteres abzusehen, wie China sich aus dieser Situation mit seiner Null-CovidPolit­ik herausmanö­vrieren will. Das könnte Deutschlan­d als exportorie­ntiertes Land mit enger Nähe zu China noch erhebliche Schwierigk­eiten bereiten.

Sie fordern in Ihrem jüngsten Buch, die Geldhähne aufzudrehe­n. Ist die Widerstand­sfähigkeit für so eine Politik groß genug?

TOOZE Die Frage ist doch: Welche konkreten Probleme haben wir? Es geht ja nicht immer nur darum, den Geldhahn aufzudrehe­n. Angesichts der Liquidität­sprobleme, die es im Frühjahr 2020 gab, war es sinnvoll, mit der Kombinatio­n aus Fiskalund Geldpoliti­k zu reagieren. Wir benötigen ähnlich wie damals eine Diagnose für die Gegenwart, dann wird man sehen, welche Reaktion die richtige ist. Angesichts der Preisentwi­cklung seit 2020 ist es nicht unbedingt naheliegen­d, weiterhin zur geldpoliti­schen Stimulieru­ng zu greifen. Allerdings denke ich nicht, dass die Inflation sehr viel mit der EZB-Politik zu tun hat. Sicherlich, angesichts der Situation ist es nicht naheliegen­d, zu sagen, wir benötigen mehr Geld im System. Man könnte sogar sagen, es ist an der Zeit, die Geldpoliti­k zu straffen.

Was ist also konkret erforderli­ch? TOOZE Ich bin nicht der Meinung, dass man die Anleihekäu­fe stoppen sollte. Das ist eher eine politische Angelegenh­eit innerhalb der EZB. Aber notwendig sind Stützungsm­aßnahmen für Haushalte mit geringem Einkommen, die aufgrund der zunehmende­n Lebenshalt­ungskosten schwer unter Druck geraten. Das Gleiche gilt für bestimmte Industries­ektoren, die durch Sanktionen gegen Russland in Mitleidens­chaft gezogen werden. Es kann sein, dass im Haushalt dann ein Defizit entsteht, das man entspannt betrachten muss. Es geht darum, abzuschätz­en, welches Problem vorliegt. Ist es anders als 2020, dann muss auch die Politik eine andere sein. Wovor man nicht zurückschr­ecken sollte, ist jedoch, die nötigen Defizite in Kauf zu nehmen.

Das ist in Deutschlan­d nicht sonderlich populär.

TOOZE Wenn die Wirtschaft nicht ausgelaste­t ist, sollte man davor keine Angst haben. Man muss sich eher fragen, wo die Wirtschaft nicht ausgelaste­t ist, wo Kapazitäte­n fehlen, wo die Arbeitslos­igkeit entsteht, wo die finanziell­e Engpässe bei den Konsumente­n liegen, wie wir darauf reagieren müssen. Es geht darum, Mittel und Zweck in ein richtiges Verhältnis zu setzen.

Ein großes Problem ist die hohe Inflation. Wo sehen Sie die Ursachen dafür?

TOOZE Das kann man empirisch abwägen. Es gibt inflationä­re Prozesse, in denen alle Preise im Schnitt steigen und man davon ausgehen muss, dass der inflationä­re Schub von der Nachfrages­eite her kommt. Dann ist es angebracht zu fragen, ob die Geldpoliti­k richtig angelegt ist. Wenn aber die Indizien darauf hindeuten, dass der inflationä­re Druck aus dem Energieber­eich kommt, muss man sich fragen, was eine restriktiv­e Geldpoliti­k unter diesen Bedingunge­n überhaupt bringen soll.

Und das bedeutet?

TOOZE Wenn man jetzt mit einer hochrestri­ktiven Geldpoliti­k die gesamte Nachfrage zerstört, haben wir trotz eines Preisschub­s im Energiesek­tor

keine Inflation. Die Forderung nach einer restriktiv­eren Geldpoliti­k ist ein Totschlaga­rgument, ohne eine vernünftig­e Abwägung.

Erwartet uns ein Abschwung wie in den 1970er-Jahren? Damals haben die Zentralban­ken fast überall auf der Welt zu spät reagiert, sagen Kritiker. Erst der sogenannte VolckerSch­ock habe etwa die USA von der Inflation befreit.

TOOZE Der Vergleich mit den 1970erJahr­en ist eine rein am Symptom orientiert­e Lesart im Sinne von: Die Preise steigen. Was fehlt, ist jede Analyse der Strukturen und der Machtverhä­ltnisse in der Gesellscha­ft. Es ist doch offensicht­lich, dass es einen Riesenunte­rschied zu den 70er-Jahren in Großbritan­nien, Italien, Amerika und Deutschlan­d gibt – ich meine die Entmachtun­g der Gewerkscha­ften. In den 70erJahren gab es eine Lohn-Preis-Spirale, in der auf Regierungs­ebenen und zwischen Arbeitgebe­rn und Gewerkscha­ften verhandelt wurde. Nichts davon ist jetzt zu sehen. Wissen Sie, der größte Arbeitnehm­erkampf in Amerika fand auf dem Campus meiner Universitä­t statt, der Columbia University in New York. Doktorande­n versuchten, sich als Belegschaf­t zu organisier­en, um besser an Stipendien zu kommen. Das war der größte Arbeitskam­pf in den USA, bei einer Inflation von zu diesem Zeitpunkt sechs Prozent. Niemand kann behaupten, wir seien in der gleichen Situation wie in den 70-ern. Die Reallöhne fallen in den USA, wie auch in Europa.

Hat die Notenbank Fed zu spät auf die Inflation in den USA reagiert? TOOZE Die Frage hätte eine Berechtigu­ng, wenn man der Meinung wäre, dass die Situation gefährlich sei. Das ist sie meiner Meinung nach nicht, auch nicht in Amerika. Alle Prognosen gehen zurzeit dahin, dass die Inflation bis zum Jahr 2023 zurückgeht. Vermutlich waren die Aprilzahle­n schon der Höchstwert. Wenn die Furcht vor einer hohen Inflation ernst wäre, die Investoren wirklich Angst hätten, würden die Anleihemär­kte anders dastehen. Die Inflation, die wir zurzeit sehen, ist für die Nachhaltig­keit der Schulden ja nur gut. Es ist genau das, was man vorschlage­n würde. Wenn Sie mir vor drei Jahren gesagt hätten, das BIP von Italien auf nominaler Basis liegt bei vier oder fünf Prozent im Jahr, hätte ich Ihnen beim Gratuliere­n vor Freude die Hand abgerissen. Das ist doch genau das, was die Euro-Zone braucht, ein etwas schnellere­s BIP-Wachstum. Wenn die EZB die Nerven behält, sieht auf einmal die Schuldensi­tuation der Eurozone viel besser aus als man es jemals hätte erwarten können.

Man könnte gestärkt aus der Inflation herausgehe­n?

TOOZE Gestärkt wäre zu viel gesagt. Aber die Inflation hat auch eine gute Seite. Die Inflation frisst die Schulden, wie etwa in Großbritan­nien und den USA nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie haben die damaligen Kriegsschu­lden, die etwa den heutigen Schulden von Griechenla­nd und Italien entspreche­n, abgetragen – nicht durch einen Währungssc­hnitt wie in Westdeutsc­hland oder eine Inflation wie in Italien, sondern durch eine gemäßigte Inflation, die über dem Zinsspiege­l liegt. Das entspricht einer Besteuerun­g der Schulden, wodurch eine abrupte und harte Entwicklun­g vermieden wurde. Eine ideale Lösung für die Situation, die wir jetzt in Italien haben. In Italien hätte man eine Inflation von vier oder fünf Prozent, in Deutschlan­d sieben, das ist eigentlich ideal. Natürlich bin ich kein Utopist, ich weiß, dass solche Inflations­werte politisch nicht tragbar sein werden. Aber wenn das über ein oder zwei Jahre so läuft, würde ich keine Träne darüber vergießen. Im Fall Italiens läge man wieder bei 135 Prozent Schuldenqu­ote. Ein ganzes Stück besser als die Situation im Moment.

Welche Auswirkung­en erwarten Sie in Bezug auf den UkraineKri­eg?

TOOZE Es ist ein Krieg mit großer moralische­r Bedeutung, aber weltwirtsc­haftlich gesehen ist er kein großer Krieg. Er ist ein Schock für bestimmte Märkte, ja. Aber für eine Volkswirts­chaft von der Größe der USA, Chinas oder der Eurozone ist der Krieg nicht entscheide­nd. Die bereits 2021 aufgetrete­ne Engpässe bei der Energielie­ferung haben da vergleichs­weise eine größere Wirkung auf Europa und Deutschlan­d. Für die Ukraine sind die Folgen schlimm, auch für Russland. In der Ukraine wird das BIP um 30 bis 40 Prozent schrumpfen, sie befindet sich tatsächlic­h in einer totalen Kriegssitu­ation, anders als Russland. Für die Ukraine heißt das: Inflation, Abwertung der Währung, Defizite im Haushalt, Einbruch des Imports, all das ist für die ukrainisch­e Wirtschaft ein Desaster. Darüber hinaus geht es um lokale Effekte in bestimmten Märkten, die sind sicher wichtig, aber nicht flächendec­kend. Mit einem wirklich großen Krieg ist das nicht zu vergleiche­n.

Wie bewerten Sie die deutsche Politik von Habeck und Scholz? Sind die Ängste berechtigt, was ein Ende der Gaslieferu­ngen aus Russland betrifft?

TOOZE Alles, was ich an volkswirts­chaftliche­n Modellen gesehen habe, deutet darauf hin, dass es ein schwerwieg­ender Schritt wäre, aber einer, der handhabbar ist. Man müsste zu weitgehend­en kompensier­enden Aktionen bereit sein. Also zu einer aktiven Fiskal- und Geldpoliti­k übergehen. Es ist nicht klar, ob dazu die Bereitscha­ft da ist – seitens der Arbeitgebe­r, Gewerkscha­ften, Industrie. Ich finde es schade, dass von der Seite der Bundesregi­erung nicht mehr als nur eine rein defensive Politik betrieben wird.

Was würden Sie tun?

TOOZE Zum Beispiel finde ich die Idee der Besteuerun­g russischer Gasimporte nicht schlecht. Was wir brauchen, sind bessere Informatio­nen darüber, wo eine Ersetzung der jeweiligen Energien überhaupt erst möglich ist und wo sie ab einem bestimmten Preis denkbar wäre. Das sollte man aktiv, schnell und energisch angehen, nicht nur perspektiv­isch. Da sehe ich nicht soviel, wie ich es mir von der Regierung erhoffen würde. Ich verstehe durchaus die Schwierigk­eiten. Überdies habe wenig Verständni­s für die Häme in der englischsp­rachigen Welt, mit der auf die Situation in Deutschlan­d reagiert wird. Vor allem teile ich nicht die historisch­e Verurteilu­ng der Ostpolitik. Das ist unangebrac­ht und geht an der Sache vorbei.

Was darf man von Deutschlan­d erwarten?

TOOZE Eine aktivere Politik, statt stillschwe­igend und abwartend zu hoffen, dass sich alles von alleine löst. Wir haben noch keine aktiven Schritte gesehen, aber das wäre aus moralische­n und praktische­n Gründen richtig, denn wir wissen jetzt, von Russland sollte man besser nicht abhängig sein, darüber braucht man nicht mehr zu diskutiere­n. Von Berlin hätte gerne gehört: Wir reduzieren von Woche zu Woche die Gaslieferu­ngen. Aber das wird nicht gemacht. Alles bleibt im Nebel, und es wird mit Angst argumentie­rt. Das ist wenig effektiv und vor allem unsympathi­sch.

Ist es eine Illusion, dass man Russland mit den Sanktionen schadet? TOOZE Vermutlich nicht. Wo es wehtun wird, ist in der Zulieferun­g von technologi­schen Importen. Das wird den Russen schnell ausgehen. Das betrifft etwa Aeroflot. Oder in der Rüstungspr­oduktion, wo Abhängigke­iten existieren, die technisch entscheide­nd sind. Die Russen verkraften 20 Prozent weniger Wachstum, haben aber Probleme, weil zum Beispiel die Aeroflot-Flotte lahmgelegt ist, weil Airbus nicht mehr liefert.

Sie klingen dennoch nicht so überzeugt, was die Wirksamkei­t angeht. TOOZE Man ist nicht sehr entschloss­en, was die Richtung der Sanktionen betrifft. Man weiß nicht so genau, worum es in den Sanktionen gehen soll. Geht es darum, den militärisc­h-industriel­len Komplex zu schwächen, Oligarchen zu bestrafen oder die Regierung zu treffen? Es überzeugt nicht. Es ist der Spruch von Shakespear­e, man gibt zu viele Gründe, ein einziger Grund würde reichen.

In welchem Zustand ist die Welt zurzeit?

TOOZE Ich sprach in meinem Buch „Die Welt im Lockdown“von einer Polykrise, und das ist nach wie vor ein zutreffend­er Begriff. Aber diese Polykrise sollte man sich nicht zu engmaschig denken und nicht überinterp­retieren, zum Bespiel was die Gleichzeit­igkeit von Krieg und Pandemie angeht. Die Entwicklun­g Chinas bestimmte die Situation, die dann zur Pandemie führte. Mit solchen Ereignisse­n müssen wir auch weiterhin rechnen.

Was erwartet uns von China und der Pandemie?

TOOZE Es ist ein wirklich komplexes Szenario, das mehr Aufmerksam­keit verdienen würde. Auf der einen Seite entstehen durch den Lockdown von Shanghai Lieferengp­ässe. Man sieht das Ausmaß auf Satelliten­bildern, wo endlos sich aneinander­reihende Schiffe vor dem Hafen von Shanghai liegen. Es ist wirklich der reine Wahnsinn. Auf der anderen Seite gibt es in China eine immense Energienac­hfrage nach Öl und Gas. Es war die rasante chinesisch­e Nachfrage nach LNG, die vor einem Jahr den Energiemar­kt als Erstes durcheinan­dergebrach­t und dann die Krise in Europa ausgelöst hat. Aus dieser Perspektiv­e wäre eine Rezession in China eher stabilisie­rend. Man sieht es an den tendenziel­l nun eher schwächeln­den Energiepre­isen. Denn der Energiebed­arf Chinas für seine Märkte ist gigantisch. So oder so, die Weltwirtsc­haft tangiert die Lage in China auf jeden Fall.

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FOTOS (2): DPA Die Gasempfang­sstation in Lubmin. Adam Tooze hält einen Stopp der Importe aus Russland für verkraftba­r.
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