Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
„Die Inflation hat auch eine gute Seite“
Der Wirtschaftshistoriker befürchtet trotz der Pandemie und des Ukraine-Kriegs keine weltweite Rezession.
Professor Tooze, 30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer erleben wir Krieg in Europa. Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat die Wachstumsprognose für die Welt gesenkt, Deutschland erhält in Europa die schlechtesten Werte. Stehen wir vor einem Jahrzehnt der Depression?
TOOZE Es wäre etwas zu dramatisch formuliert, wenn man die Schwierigkeiten der vergangenen drei Monate gleich auf ein ganzes Jahrzehnt fortschreiben wollte. Wenn man sich erinnert, waren die Aussichten Anfang des Jahres ja gar nicht so schlecht. Allerdings gehe ich davon aus, dass die Kosten der Umstellung, die durch den Versuch entstehen, sich von russischen Energien abzukoppeln, das ganze Jahrzehnt bestimmen werden. Die Politik hat ja durchaus Möglichkeiten, auf die Situation zu reagieren. Bisher ist die Reaktion jedoch eher verhalten. Die Europäische Zentralbank setzt ihre konservative Wende fort. Das alles dämpft die Wachstumsaussichten. Wenn man jedoch dazu übergeht, der derzeitigen Lage im Lichte der Krise von 2020 zu begegnen, könnte die Prognose ganz anders ausfallen.
Inwiefern?
TOOZE Wenn wir die Probleme, die durch den Konflikt mit Russland entstehen, als Anreiz für eine ausgleichende Konjunkturpolitik in größerem Ausmaß verstehen, wäre für ein Wirtschaftswachstum jede Menge Potenzial vorhanden. Aber im Moment lässt man diesen heftigen Effekt auf die deutsche Volkswirtschaft einfach nur wirken, was eher deprimierend ist. Zudem sind die anhaltenden Probleme Chinas mit der Corona-Pandemie schlechte Nachrichten, da ist nicht ohne Weiteres abzusehen, wie China sich aus dieser Situation mit seiner Null-CovidPolitik herausmanövrieren will. Das könnte Deutschland als exportorientiertes Land mit enger Nähe zu China noch erhebliche Schwierigkeiten bereiten.
Sie fordern in Ihrem jüngsten Buch, die Geldhähne aufzudrehen. Ist die Widerstandsfähigkeit für so eine Politik groß genug?
TOOZE Die Frage ist doch: Welche konkreten Probleme haben wir? Es geht ja nicht immer nur darum, den Geldhahn aufzudrehen. Angesichts der Liquiditätsprobleme, die es im Frühjahr 2020 gab, war es sinnvoll, mit der Kombination aus Fiskalund Geldpolitik zu reagieren. Wir benötigen ähnlich wie damals eine Diagnose für die Gegenwart, dann wird man sehen, welche Reaktion die richtige ist. Angesichts der Preisentwicklung seit 2020 ist es nicht unbedingt naheliegend, weiterhin zur geldpolitischen Stimulierung zu greifen. Allerdings denke ich nicht, dass die Inflation sehr viel mit der EZB-Politik zu tun hat. Sicherlich, angesichts der Situation ist es nicht naheliegend, zu sagen, wir benötigen mehr Geld im System. Man könnte sogar sagen, es ist an der Zeit, die Geldpolitik zu straffen.
Was ist also konkret erforderlich? TOOZE Ich bin nicht der Meinung, dass man die Anleihekäufe stoppen sollte. Das ist eher eine politische Angelegenheit innerhalb der EZB. Aber notwendig sind Stützungsmaßnahmen für Haushalte mit geringem Einkommen, die aufgrund der zunehmenden Lebenshaltungskosten schwer unter Druck geraten. Das Gleiche gilt für bestimmte Industriesektoren, die durch Sanktionen gegen Russland in Mitleidenschaft gezogen werden. Es kann sein, dass im Haushalt dann ein Defizit entsteht, das man entspannt betrachten muss. Es geht darum, abzuschätzen, welches Problem vorliegt. Ist es anders als 2020, dann muss auch die Politik eine andere sein. Wovor man nicht zurückschrecken sollte, ist jedoch, die nötigen Defizite in Kauf zu nehmen.
Das ist in Deutschland nicht sonderlich populär.
TOOZE Wenn die Wirtschaft nicht ausgelastet ist, sollte man davor keine Angst haben. Man muss sich eher fragen, wo die Wirtschaft nicht ausgelastet ist, wo Kapazitäten fehlen, wo die Arbeitslosigkeit entsteht, wo die finanzielle Engpässe bei den Konsumenten liegen, wie wir darauf reagieren müssen. Es geht darum, Mittel und Zweck in ein richtiges Verhältnis zu setzen.
Ein großes Problem ist die hohe Inflation. Wo sehen Sie die Ursachen dafür?
TOOZE Das kann man empirisch abwägen. Es gibt inflationäre Prozesse, in denen alle Preise im Schnitt steigen und man davon ausgehen muss, dass der inflationäre Schub von der Nachfrageseite her kommt. Dann ist es angebracht zu fragen, ob die Geldpolitik richtig angelegt ist. Wenn aber die Indizien darauf hindeuten, dass der inflationäre Druck aus dem Energiebereich kommt, muss man sich fragen, was eine restriktive Geldpolitik unter diesen Bedingungen überhaupt bringen soll.
Und das bedeutet?
TOOZE Wenn man jetzt mit einer hochrestriktiven Geldpolitik die gesamte Nachfrage zerstört, haben wir trotz eines Preisschubs im Energiesektor
keine Inflation. Die Forderung nach einer restriktiveren Geldpolitik ist ein Totschlagargument, ohne eine vernünftige Abwägung.
Erwartet uns ein Abschwung wie in den 1970er-Jahren? Damals haben die Zentralbanken fast überall auf der Welt zu spät reagiert, sagen Kritiker. Erst der sogenannte VolckerSchock habe etwa die USA von der Inflation befreit.
TOOZE Der Vergleich mit den 1970erJahren ist eine rein am Symptom orientierte Lesart im Sinne von: Die Preise steigen. Was fehlt, ist jede Analyse der Strukturen und der Machtverhältnisse in der Gesellschaft. Es ist doch offensichtlich, dass es einen Riesenunterschied zu den 70er-Jahren in Großbritannien, Italien, Amerika und Deutschland gibt – ich meine die Entmachtung der Gewerkschaften. In den 70erJahren gab es eine Lohn-Preis-Spirale, in der auf Regierungsebenen und zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften verhandelt wurde. Nichts davon ist jetzt zu sehen. Wissen Sie, der größte Arbeitnehmerkampf in Amerika fand auf dem Campus meiner Universität statt, der Columbia University in New York. Doktoranden versuchten, sich als Belegschaft zu organisieren, um besser an Stipendien zu kommen. Das war der größte Arbeitskampf in den USA, bei einer Inflation von zu diesem Zeitpunkt sechs Prozent. Niemand kann behaupten, wir seien in der gleichen Situation wie in den 70-ern. Die Reallöhne fallen in den USA, wie auch in Europa.
Hat die Notenbank Fed zu spät auf die Inflation in den USA reagiert? TOOZE Die Frage hätte eine Berechtigung, wenn man der Meinung wäre, dass die Situation gefährlich sei. Das ist sie meiner Meinung nach nicht, auch nicht in Amerika. Alle Prognosen gehen zurzeit dahin, dass die Inflation bis zum Jahr 2023 zurückgeht. Vermutlich waren die Aprilzahlen schon der Höchstwert. Wenn die Furcht vor einer hohen Inflation ernst wäre, die Investoren wirklich Angst hätten, würden die Anleihemärkte anders dastehen. Die Inflation, die wir zurzeit sehen, ist für die Nachhaltigkeit der Schulden ja nur gut. Es ist genau das, was man vorschlagen würde. Wenn Sie mir vor drei Jahren gesagt hätten, das BIP von Italien auf nominaler Basis liegt bei vier oder fünf Prozent im Jahr, hätte ich Ihnen beim Gratulieren vor Freude die Hand abgerissen. Das ist doch genau das, was die Euro-Zone braucht, ein etwas schnelleres BIP-Wachstum. Wenn die EZB die Nerven behält, sieht auf einmal die Schuldensituation der Eurozone viel besser aus als man es jemals hätte erwarten können.
Man könnte gestärkt aus der Inflation herausgehen?
TOOZE Gestärkt wäre zu viel gesagt. Aber die Inflation hat auch eine gute Seite. Die Inflation frisst die Schulden, wie etwa in Großbritannien und den USA nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie haben die damaligen Kriegsschulden, die etwa den heutigen Schulden von Griechenland und Italien entsprechen, abgetragen – nicht durch einen Währungsschnitt wie in Westdeutschland oder eine Inflation wie in Italien, sondern durch eine gemäßigte Inflation, die über dem Zinsspiegel liegt. Das entspricht einer Besteuerung der Schulden, wodurch eine abrupte und harte Entwicklung vermieden wurde. Eine ideale Lösung für die Situation, die wir jetzt in Italien haben. In Italien hätte man eine Inflation von vier oder fünf Prozent, in Deutschland sieben, das ist eigentlich ideal. Natürlich bin ich kein Utopist, ich weiß, dass solche Inflationswerte politisch nicht tragbar sein werden. Aber wenn das über ein oder zwei Jahre so läuft, würde ich keine Träne darüber vergießen. Im Fall Italiens läge man wieder bei 135 Prozent Schuldenquote. Ein ganzes Stück besser als die Situation im Moment.
Welche Auswirkungen erwarten Sie in Bezug auf den UkraineKrieg?
TOOZE Es ist ein Krieg mit großer moralischer Bedeutung, aber weltwirtschaftlich gesehen ist er kein großer Krieg. Er ist ein Schock für bestimmte Märkte, ja. Aber für eine Volkswirtschaft von der Größe der USA, Chinas oder der Eurozone ist der Krieg nicht entscheidend. Die bereits 2021 aufgetretene Engpässe bei der Energielieferung haben da vergleichsweise eine größere Wirkung auf Europa und Deutschland. Für die Ukraine sind die Folgen schlimm, auch für Russland. In der Ukraine wird das BIP um 30 bis 40 Prozent schrumpfen, sie befindet sich tatsächlich in einer totalen Kriegssituation, anders als Russland. Für die Ukraine heißt das: Inflation, Abwertung der Währung, Defizite im Haushalt, Einbruch des Imports, all das ist für die ukrainische Wirtschaft ein Desaster. Darüber hinaus geht es um lokale Effekte in bestimmten Märkten, die sind sicher wichtig, aber nicht flächendeckend. Mit einem wirklich großen Krieg ist das nicht zu vergleichen.
Wie bewerten Sie die deutsche Politik von Habeck und Scholz? Sind die Ängste berechtigt, was ein Ende der Gaslieferungen aus Russland betrifft?
TOOZE Alles, was ich an volkswirtschaftlichen Modellen gesehen habe, deutet darauf hin, dass es ein schwerwiegender Schritt wäre, aber einer, der handhabbar ist. Man müsste zu weitgehenden kompensierenden Aktionen bereit sein. Also zu einer aktiven Fiskal- und Geldpolitik übergehen. Es ist nicht klar, ob dazu die Bereitschaft da ist – seitens der Arbeitgeber, Gewerkschaften, Industrie. Ich finde es schade, dass von der Seite der Bundesregierung nicht mehr als nur eine rein defensive Politik betrieben wird.
Was würden Sie tun?
TOOZE Zum Beispiel finde ich die Idee der Besteuerung russischer Gasimporte nicht schlecht. Was wir brauchen, sind bessere Informationen darüber, wo eine Ersetzung der jeweiligen Energien überhaupt erst möglich ist und wo sie ab einem bestimmten Preis denkbar wäre. Das sollte man aktiv, schnell und energisch angehen, nicht nur perspektivisch. Da sehe ich nicht soviel, wie ich es mir von der Regierung erhoffen würde. Ich verstehe durchaus die Schwierigkeiten. Überdies habe wenig Verständnis für die Häme in der englischsprachigen Welt, mit der auf die Situation in Deutschland reagiert wird. Vor allem teile ich nicht die historische Verurteilung der Ostpolitik. Das ist unangebracht und geht an der Sache vorbei.
Was darf man von Deutschland erwarten?
TOOZE Eine aktivere Politik, statt stillschweigend und abwartend zu hoffen, dass sich alles von alleine löst. Wir haben noch keine aktiven Schritte gesehen, aber das wäre aus moralischen und praktischen Gründen richtig, denn wir wissen jetzt, von Russland sollte man besser nicht abhängig sein, darüber braucht man nicht mehr zu diskutieren. Von Berlin hätte gerne gehört: Wir reduzieren von Woche zu Woche die Gaslieferungen. Aber das wird nicht gemacht. Alles bleibt im Nebel, und es wird mit Angst argumentiert. Das ist wenig effektiv und vor allem unsympathisch.
Ist es eine Illusion, dass man Russland mit den Sanktionen schadet? TOOZE Vermutlich nicht. Wo es wehtun wird, ist in der Zulieferung von technologischen Importen. Das wird den Russen schnell ausgehen. Das betrifft etwa Aeroflot. Oder in der Rüstungsproduktion, wo Abhängigkeiten existieren, die technisch entscheidend sind. Die Russen verkraften 20 Prozent weniger Wachstum, haben aber Probleme, weil zum Beispiel die Aeroflot-Flotte lahmgelegt ist, weil Airbus nicht mehr liefert.
Sie klingen dennoch nicht so überzeugt, was die Wirksamkeit angeht. TOOZE Man ist nicht sehr entschlossen, was die Richtung der Sanktionen betrifft. Man weiß nicht so genau, worum es in den Sanktionen gehen soll. Geht es darum, den militärisch-industriellen Komplex zu schwächen, Oligarchen zu bestrafen oder die Regierung zu treffen? Es überzeugt nicht. Es ist der Spruch von Shakespeare, man gibt zu viele Gründe, ein einziger Grund würde reichen.
In welchem Zustand ist die Welt zurzeit?
TOOZE Ich sprach in meinem Buch „Die Welt im Lockdown“von einer Polykrise, und das ist nach wie vor ein zutreffender Begriff. Aber diese Polykrise sollte man sich nicht zu engmaschig denken und nicht überinterpretieren, zum Bespiel was die Gleichzeitigkeit von Krieg und Pandemie angeht. Die Entwicklung Chinas bestimmte die Situation, die dann zur Pandemie führte. Mit solchen Ereignissen müssen wir auch weiterhin rechnen.
Was erwartet uns von China und der Pandemie?
TOOZE Es ist ein wirklich komplexes Szenario, das mehr Aufmerksamkeit verdienen würde. Auf der einen Seite entstehen durch den Lockdown von Shanghai Lieferengpässe. Man sieht das Ausmaß auf Satellitenbildern, wo endlos sich aneinanderreihende Schiffe vor dem Hafen von Shanghai liegen. Es ist wirklich der reine Wahnsinn. Auf der anderen Seite gibt es in China eine immense Energienachfrage nach Öl und Gas. Es war die rasante chinesische Nachfrage nach LNG, die vor einem Jahr den Energiemarkt als Erstes durcheinandergebracht und dann die Krise in Europa ausgelöst hat. Aus dieser Perspektive wäre eine Rezession in China eher stabilisierend. Man sieht es an den tendenziell nun eher schwächelnden Energiepreisen. Denn der Energiebedarf Chinas für seine Märkte ist gigantisch. So oder so, die Weltwirtschaft tangiert die Lage in China auf jeden Fall.