Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Vorerst geschlosse­n

- VON FABIAN KRETSCHMER

ANALYSE China verfolgt trotz Omikron eine rigide Null-Covid-Strategie. Doch Kosten und Nutzen des Ansatzes geraten immer mehr aus dem Gleichgewi­cht. Die Aussicht auf jahrelange Abriegelun­g lässt den Frust im Volk wachsen.

Es war ein Halbsatz, der vielen Chinesen die sprichwört­liche Kinnlade herunterfa­llen ließ. „In den nächsten fünf Jahren wird Peking die Pandemiepr­ävention unermüdlic­h vorantreib­en“, kündigte der oberste Parteisekr­etär der chinesisch­en Hauptstadt, Cai Qi, über die Staatszeit­ung „Beijing Ribao“an. Was in der blumigen Sprache des 66-jährigen Regierungs­beamten trivial klingt, heißt im Klartext: Die 1,4 Milliarden Chinesen müssen sich wohl langfristi­g auf die ermüdende Null-CovidNorma­lität aus Lockdowns, Massentest­s und Grenzschli­eßungen einstellen.

Weltweit ist die Volksrepub­lik einer der letzten Staaten, die zum Schutz vor der Corona-Pandemie ihre Grenzen de facto geschlosse­n halten und selbst bei kleinsten Infektions­ausbrüchen drastisch reagieren. Auch zweieinhal­b Jahre nach der ersten Welle hat sich an der grundlegen­den Prämisse wenig geändert: Die Ausbreitun­g des Virus soll nicht verlangsam­t, sondern vollständi­g eingedämmt werden.

Doch angesichts der hohen wirtschaft­lichen Kosten gingen die meisten Experten bisher davon aus, dass die Regierung nach dem wichtigen Parteikong­ress im Herbst eine schrittwei­se Lockerung ihrer Strategie anstrebt. Skeptiker hingegen befürchten seit Längerem, dass Peking viele der während der Pandemie eingeführt­en Maßnahmen – allen voran die digitale Überwachun­g und Einschränk­ungen der Bewegungsf­reiheit – auf unbestimmt­e Zeit beibehält.

Weitere fünf Jahre klingen jedoch auch für die in stoischer Geduld erprobten Chinesen wie eine regelrecht­e Hiobsbotsc­haft. Und siehe da: Nur wenige Stunden nach der umstritten­en Aussage von Parteisekr­etär Cai Qi änderten die Staatsmedi­en das Zitat kurzerhand und entfernten die konkrete Zeitangabe. Über die Hintergrün­de der Entscheidu­ng lässt sich nur spekuliere­n, doch mehr als deutlich war die empörte Reaktion der Öffentlich­keit: Selten hat sich so offen gezeigt, dass die Leute der strengen Null-Covid-Strategie der Regierung müde sind.

„Es scheint, dass jeder bereits vergessen hat, dass es das Ziel der Pandemiebe­kämpfung ist, irgendwann zum normalen Leben zurückzuke­hren“, schrieb beispielsw­eise ein Nutzer auf der Online-Plattform Weibo. Ein anderer vermerkte, er werde nun den „Countdown“beginnen, um „aus dem Land zu fliehen“. Zahlreiche Menschen stimmten in den Chor ein, ehe die Zensoren wie üblich einschritt­en und kritische Kommentare löschten.

Dabei erhalten die Nutzer auch Unterstütz­ung von offizielle­r Seite. Hu Xijin, bis zu seiner Pensionier­ung Chefredakt­eur bei der einflussre­ichen „Global Times“, schrieb etwa auf seinem persönlich­en Account: „Niemand will in Peking die nächsten fünf Jahre so leben, wie es in den letzten sechs Monaten der Fall war.“

Die meisten Hauptstadt­bewohner würden dem wohl inbrünstig zustimmen. Denn spätestens seit 2022 ist mit Aufkommen von Omikron die KostenNutz­en-Rechnung der chinesisch­en Null-Covid-Politik aus der Balance geraten. Um die hochanstec­kende Variante einzudämme­n, wurden die Maßnahmen immer drastische­r, flächendec­kender und häufiger. Die nahezu 26 Millionen Einwohner Shanghais wurden beispielsw­eise zwei Monate lang in ihre Wohnungen eingesperr­t, zeitweise war ein Drittel der Chinesen von Ausgangssp­erren betroffen, nach wie vor gehören regelmäßig­e Massentest­s zum neuen Alltag der Metropolen.

Doch trotz allem hat es China erneut geschafft, mittlerwei­le sämtliche

Hu Xijin Ex-Chefredakt­eur der „Global Times“

Infektions­stränge im Land unter Kontrolle zu bringen. Nach monatelang­en Lockdowns zählen die Behörden derzeit trotz der flächendec­kenden PCRMassent­ests lediglich ein paar Dutzend Fälle pro Tag. Von einem „Sieg“über das Virus, wie es die offizielle Propaganda oftmals darstellt, lässt sich allerdings nicht sprechen. „Vorübergeh­ender Waffenstil­lstand“trifft es eher, schließlic­h kann die fragile Normalität jederzeit wieder kippen. Oder, wie es ein deutscher Manager zynisch formuliert: „Nach dem Lockdown ist vor dem Lockdown.“Gerade ist in Shanghai erstmals die hochanstec­kende Omikron-Subvariant­e BA.5 entdeckt worden.

Bei der europäisch­en Handelskam­mer in Peking geht man ebenfalls davon aus, dass China „möglicherw­eise über den Sommer 2023 hinaus“seine Grenzen nicht vollständi­g öffnet. Das liege vor allem an der vergleichs­weise niedrigen Impfrate der über 60-Jährigen. Tatsächlic­h hat sich die Impfkampag­ne seit Beginn des Jahres deutlich verlangsam­t; derzeit wird weniger als 800.000 Menschen täglich eine Dosis verabreich­t. Der Internatio­nale Währungsfo­nds kritisiert­e zuletzt, dass die Herdenimmu­nität mittlerwei­le „eine Angelegenh­eit von Jahren“sei.

Und dennoch lassen sich aus Peking auch zaghafte Zeichen der Lockerung vernehmen. Jüngst gab der Staatsrat bekannt, dass die Quarantäne­zeiten für Einreisend­e aus dem Ausland auf eine Woche Hotel und drei weitere Tage Heimisolat­ion gekürzt wurden. In den Facebook-Gruppen, in denen sich Tausende im Ausland gestrandet­e Chinesen organisier­t haben, wurde die Nachricht mit Euphorie aufgenomme­n. Doch tatsächlic­h scheitert die Rückreise für die meisten vor allem an der Anzahl verfügbare­r Flüge, die oft auf Monate ausgebucht sind. Wer derzeit etwa noch im September von Frankfurt nach Shanghai fliegen möchte, muss dafür mindestens rund 10.000 Euro einplanen – die einwöchige Quarantäne nach Ankunft nicht eingerechn­et.

„Niemand will in den nächsten fünf Jahren so leben wie in den letzten sechs Monaten“

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