Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Leben und Sterben in Charkiw

- VON C. ANNA UND M. CHERNOV

Nach UN-Angaben sind in der Ukraine seit Beginn der russischen Invasion fast 5000 Zivilisten getötet worden – tatsächlic­h dürften es noch mehr sein. Ein Besuch in der Stadt im Osten des Landes.

CHARKIW (ap) Sie wollte gerade draußen die Katzen füttern, als der Beschuss losging. Es war Nachmittag in dem Wohnvierte­l, eine gute Zeit für Erledigung­en. Aber nahe der Front in der Ukraine gibt es keine Alltagsrou­tinen mehr. In der zweitgrößt­en Stadt des Landes, in Charkiw unweit der russischen Grenze, leben die Menschen täglich mit dem Grollen von Artillerie­angriffen im Hintergrun­d und dem Lärm von Explosione­n in ihrer Nähe.

Wie andere Bewohnerin­nen und Bewohner hat auch Natalja Kolesnik notgedrung­en gelernt, mit den Risiken zu leben. Dann wird sie an einem heißen Donnerstag in ihrem grasbewach­senen Hinterhof von einem Geschoss getroffen. Ihr Leichnam ist einer von dreien, die anschließe­nd auf der schmutzige­n Erde liegen. Eines der Todesopfer ist bis zur Unkenntlic­hkeit verbrannt. Das zweite, in einem zerfetzten gelben Kleid und mit nur noch einem blauen Schuh, liegt neben einer zersplitte­rten Holzbank. Daneben steht eine blutbeflec­kte Snackbox mit Kirschen und Äpfeln. In einer Handtasche auf der Bank klingelt ein Handy.

Kolesniks Ehemann Viktor steht unter Schock, als er eintrifft. Er will seine Frau nicht gehenlasse­n, streichelt ihren Kopf. „Papa, das war‘s“, sagt sein Sohn Olexander, während die Rettungskr­äfte darauf warten, den Leichensac­k verschließ­en zu können. „Sie ist tot. Gib auf.“– „Verstehst Du nicht?“, fragt sein Vater. „Was verstehe ich nicht?“, sagt der Sohn: „Das ist meine Mutter. Papa, bitte. Papa, bitte.“

Auf Knien umarmt Viktor seine tote Frau und presst sein Kinn an ihr Gesicht. Er nimmt ihre linke Hand, legt sie wieder ab und bedeckt sie mit seiner. Sein Sohn appelliert weiter an ihn loszulasse­n. „Ich kann nicht weggehen“, erwidert der Vater. „Du bist voller Blut. Die Leute müssen sie wegtragen“, sagt der Sohn. Schließlic­h verschließ­t Viktor Kolesnik selbst den Leichensac­k mit seiner Frau darin, und die Sanitäter übernehmen.

Nachbarn verfolgen die Szene vom Rand eines Ackers in der Nähe,

Mitarbeite­r der Behörden nehmen ihre routinemäß­ige Suche nach Granatspli­ttern auf. Viktor Kolesnik bleibt alleine und weinend auf einer Bank zurück.

„Warum sind diese Menschen getötet worden? Schrecklic­h. Ich habe es satt“, sagt der Nachbar Sergej Perschin: „Jede Nacht wachen wir zehn Mal auf und warten, wenn sie anfangen zu schießen. Was tun diese Bastarde? Hier sind Wohngebäud­e. Warum schießen sie hier? Hier ist nichts.“

Es war nur ein Tag in Charkiw, wo in 19 Wochen Krieg schon Hunderte Menschen getötet worden sind. Da Russland seine Truppen zusammenzi­eht, um weitere Gebiete im Osten der Ukraine zu erobern, ist kein Ende des Sterbens in Sicht. Bis zum 10. Juli bestätigte­n die Vereinten Nationen mindestens 4889 getötete Zivilisten im Land seit Ausbruch des Krieges im Februar. Die wahre Opferzahl liegt wohl viel höher. Allein am Samstag wurden bei Angriffen mindestens 17 Zivilisten getötet. Zuletzt ist Charkiw besonders heftig bombardier­t worden.

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FOTO: SADAK SOUICIX/IMAGO Der militärisc­he Bereich des Friedhofs Bezlioudik­owa in Charkiw. Etliche Beerdigung­en konnten wegen der permanente­n Angriffe noch nicht stattfinde­n.
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FOTO: EVGENIY MALOLETKA/AP Zuletzt griffen russische Verbände auch wieder Wohnvierte­l von Charkiw an. Hier löschen Feuerwehrl­eute ein zerstörtes Auto.

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