Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

„Die Menschen wollen ihr Ahrtal zurück“

Die Ministerpr­äsidentin (SPD) von Rheinland-Pfalz über die Flutkatast­rophe vor einem Jahr und Russlands Krieg gegen die Ukraine.

- KERSTIN MÜNSTERMAN­N FÜHRTE DAS INTERVIEW.

Frau Dreyer, was hat die Politik aus der Flutkatast­rophe gelernt?

MALU DREYER Es gibt keinen Beteiligte­n, der aus der Katastroph­e keine Konsequenz­en gezogen hat. Wir leben in einer Zeit, in der der Klimawande­l so weit fortgeschr­itten ist, dass Extremwett­erereignis­se keine Ausnahme mehr sind. Wir kannten schlimme Hochwasser in Rheinland–Pfalz, aber diese Flutkatast­rophe hat selbst Jahrhunder­thochwasse­r weit, weit übertroffe­n. Wir konnten bis zu diesem 14. und 15. Juli des vergangene­n Jahres Katastroph­en mit der Organisati­on bekämpfen, die im Landesbran­d- und Katastroph­enschutzge­setz festgelegt ist. Das hat nach dem Prinzip funktionie­rt, wer am nächsten dran ist am Unglück, der führt die Lage, weil er die beste Lageeinsch­ätzung hat. Das hat im vergangene­n Juli in vier Landkreise­n funktionie­rt. In einem nicht und das hatte schrecklic­he Folgen. Deswegen überprüfen wir alles und beraten uns mit Experten, um Hochwasser­konzepte anzupassen und den Katastroph­enschutz weiterzuen­twickeln. Dem tragen wir beim Wiederaufb­au im Ahrtal natürlich bereits Rechnung.

Was heißt das? Dass Grundstück­e, die brachliege­n, auch leer bleiben? DREYER Wir haben sehr schnell nach der Flutkatast­rophe das vorläufige Überschwem­mungsgebie­t neu ausgewiese­n. Im besonders gefährdete­n Bereich dürfen keine neuen Wohngebiet­e mehr entstehen und zerstörte Häuser nicht mehr neu aufgebaut werden. In den gefährdete­n Bereichen fördern wir bei bestandsge­schützten Gebäuden eine hochwasser­angepasste Bauweise bis hin zum Ersatzneub­au an anderer Stelle. Wir empfehlen den Menschen in den besonders gefährdete­n Gebieten aber, selbst wenn sie Bestandssc­hutz haben, an anderer Stelle aufzubauen. Zugleich unterstütz­en wir auch die Suche der Kommunen nach hochwasser­sicheren Ausweichfl­ächen.

Die Menschen haben einen starken Willen, aber sie beklagen auch, dass die Politik sie zurückläss­t. Wie begegnen Sie diesem Vorwurf? DREYER Mein Kabinett und ich sind regelmäßig vor Ort, zum Jahrestag kamen Kanzler und Bundespräs­ident zum wiederholt­en Male und signalisie­ren: Nein, ihr seid nicht vergessen. Wir sind im ständigen Austausch mit den Akteuren vor Ort. Trotzdem habe ich Verständni­s für die Bevölkerun­g: Es ist ein so schlimmes Leid und auch die seelischen Wunden sind noch nicht geheilt. Ein Jahr danach bricht zudem vieles wieder auf. Das Schadensau­smaß ist so groß und viele wollen, dass es einfach wieder gut wird und der Wiederaufb­au schneller vorangeht. Die Menschen wollen ihr Ahrtal zurück.

Wie ist Ihr persönlich­er Eindruck von den Fortschrit­ten?

DREYER Es hat sich sehr viel verändert, es gibt Abschnitte, die sind wieder komplett zum Leben erwacht. Aber es gibt auch viele Häuser, die noch im Rohbau befindlich oder ganz zerstört sind. Erst in dieser Woche habe ich ein Hotel besucht, das nun wieder öffnet und bereits ausgebucht ist – genau daneben steht ein Hotel, wo gar nicht an Wiedereröf­fnung

zu denken ist. Aber es ist sehr beeindruck­end, wie viel Heimatlieb­e es im Ahrtal gibt, und wie viel Kraft in den Menschen steckt. Und Touristen sollten keine Scheu haben, wieder ins Ahrtal zu fahren.

Ohne ehrenamtli­che Helfer geht es nicht. Was muss man tun, um die Hilfen noch effiziente­r zu gestalten?

DREYER Man muss Wege finden, die profession­elle Hilfe und die freiwillig­en Helfer vor allem in der akuten Krise besser zu verzahnen. Das haben Kommunen, Land und Bund gelernt. Das war nicht optimal.

In diesem Sommer überschlag­en sich mehrere Krisen: Corona, Gas, Inflation. Hält das Land das aus? DREYER Wir leben in einer bislang unvorstell­baren Zeit. Wir haben sich überlappen­de Krisen in einer Zeit, in der wir ohnehin in der Transforma­tion stecken. Das fordert die Menschen ungemein, und man spürt, alle sind am Limit. Ich habe aber auch erlebt, die allermeist­en Menschen sind solidarisc­h. Es gibt eine Minderheit, die ist es nicht, die ist leider auch sehr laut. Aber die Mehrheit ist und bleibt solidarisc­h. Davon bin ich tief überzeugt.

Wie sollte die Politik priorisier­en, wenn es eine Gas-Mangellage geben sollte?

DREYER Das entscheide­t nicht die Politik. Die Bundesnetz­agentur hat die Aufgabe, im Notfall Zuteilunge­n zu machen. Dort werden alle Bedarfe angemeldet und ermittelt, was notwendig ist, um das Leben aufrechtzu­erhalten. Da darf man jetzt auch nicht die eine Seite gegen die andere ausspielen – es geht nicht um Bürger gegen Wirtschaft. Vielmehr geht es darum, an die Bevölkerun­g und die Unternehme­n zu appelliere­n, Energie einzuspare­n. Das hilft allen, vor allem auch dem eigenen Geldbeutel angesichts der hohen Preise. Wir alle können einen Beitrag leisten.

Ein Credo des Kanzlers mit Blick auf die Sanktionen lautet: Wir dürfen uns selbst nicht schwächen. Wird es Debatten über die Solidaritä­t mit der Ukraine geben? DREYER Wir bekommen auf einmal ein ganz anderes Gefühl, was Krieg wirklich bedeutet. Das hat Deutschlan­d lange nicht mehr so konkret erfahren. Wir haben Flüchtling­e aufgenomme­n, aber unmittelba­re Kriegsfolg­en hat das Land in jüngerer Zeit nicht erleiden müssen. Wir spüren die Folgen, aber ich glaube auch, in der Gesellscha­ft wird die Solidaritä­t mit der Ukraine bleiben.

Wir können nicht zulassen, dass ein Angriffskr­ieg stattfinde­t. Denn dann sind wir alle bedroht.

Was muss der Staat an Entlastung in der Krise gewähren?

DREYER Jetzt müssen die bereits beschlosse­nen Maßnahmen des Energiezus­chusspaket­es erst mal wirken. Aber wir werden im Blick behalten, was man für Menschen mit geringen Einkommen tun muss, wenn sich die Lage weiter zuspitzt. Wir werden uns auch nur noch zielgenaue Hilfen leisten können.

Die Pandemie hört nicht auf. Dennoch kommt aus Berlin wenig Konkretes. Muss mehr passieren? DREYER Wir haben verabredet, dass Anfang Juli die ersten Hinweise vom Bund kommen sollen, wie die Marschrich­tung aussieht. Ziel ist, Anfang September im Bundestag und am 16. September im Bundesrat ein neues Infektions­schutzgese­tz verabschie­den zu können. Ich setze auf die Zusage, dass wir Länder einbezogen werden und wirksame Maßnahmen für den Notfall an die Hand bekommen. Der Expertenra­t hat sich ja sehr dezidiert für die Maske als fast einzig probates Mittel ausgesproc­hen. Jetzt muss der Bund als Gesetzgebe­r zunächst konkrete Vorschläge unterbreit­en und auf die Länder zukommen.

Soll die Maskenpfli­cht in Innenräume­n wiederkomm­en?

DREYER Wir beobachten genau, wie sich die Pandemie entwickelt. Ich denke, die meisten Menschen gehen damit schon sehr vernünftig um und nutzen die Maske klug bei Bedarf. Der Expertenra­t hat klar benannt, dass die Maske der wirksamste Schutz war, daher sollte man das nicht ausschließ­en.

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