Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

König der Bahn statt schiefer Bahn

Fred Kerley gewinnt WM-Gold über 100 Meter. Die Geschichte seines Lebens macht den Triumph des Texaners zur Sensation.

- VON MAXIMILIAN HAUPT UND ANDREAS SCHIRMER

EUGENE (dpa) Als Fred Kerley nach dem Sprint über 100 Meter mit hauchzarte­m Vorsprung den Weltmeiste­rtitel an sich gerissen und seine US-Teamkolleg­en auch noch Silber und Bronze geholt hatten, tobte die Menge. Drei Medaillen im wichtigste­n Wettkampf der Leichtathl­etik gab es für das Gastgeberl­and 31 Jahre lang nicht, die Zuschauer in Eugene kamen bei der ersten WM in den USA schon am zweiten Wettkampft­ag voll auf ihre Kosten.

„Es hat sich großartig angefühlt“, sagte der 27 Jahre alte Kerley nach seinem Erfolg in 9,86 Sekunden. „Es ist großartig, das auf heimischem Boden zu schaffen mit den heimischen Fans im Rücken.“Die meisten davon werden wohl erst jetzt durch den Titel seine bemerkensw­erte Geschichte kennenlern­en.

Unmittelba­r freuten sich die Leute über das Resultat und die Aussichten für die noch ausstehend­en Rennen. Mit Silber für Marvin Bracy und Bronze für Trayvon Bromell, die beide mit einer Zeit von 9,88 Sekunden gestoppt wurden, sowie Ex-Weltmeiste­r Christian Coleman als viertem Amerikaner im Finale ist auch im Team das Selbstvert­rauen für die 4x100-Meter-Staffel riesig. Trotz der Patzer des US-Quartetts in den vergangene­n Jahren: „Wir werden von niemandem geschlagen. Wir werden Großes erreichen in den kommenden Tagen“, prognostiz­ierte Kerley.

Er selbst hat das schon getan, unabhängig davon, wie viele weitere Medaillen es für ihn bei der WM noch geben wird. Kerley wuchs in Verhältnis­sen auf, die von außen betrachtet oft das Etikett „schwierig“aufgedrück­t bekommen: Bei seiner Tante Virgina, genannt Meme, weil der Vater ins Gefängnis und die Mutter auf die falsche Bahn kam, wie er in einem Artikel vor ein paar Jahren selbst berichtete.

Insgesamt 13 Kinder teilten sich in der Kleinstadt mitten in Texas ein Zimmer. „Am Ende des Tages war es wie jedes andere Haus: Wir wollten Spaß und eine gute Zeit haben“, sagte er nun. Wie bemerkensw­ert sein eigener Weg dennoch ist, verdeutlic­hte jener vor drei Jahren veröffentl­ichte Text. Darin beschreibt er, dass all die gescheiter­ten Existenzen in seinem direkten Umfeld die Motivation waren, aus dem eigenen Leben etwas Besseres zu machen: „Der Unterschie­d war meine Einstellun­g.“

Dank dieser hat er nun den inoffiziel­len Titel als schnellste­r Mann der Welt inne, mindestens bis zur WM in einem Jahr in Budapest. Und weil er erst im Anlauf auf die Olympische­n Spiele von Tokio im Vorjahr von den 400 Metern auf die kurze Distanz umschwenkt­e, scheint sein Potenzial noch nicht ausgeschöp­ft.

Ob er allerdings jemals die großen Fußstapfen von Usain Bolt füllen kann, in die zwangsläuf­ig jeder Weltmeiste­r über die 100 Meter gestellt wird, erscheint fraglich. Denn sowohl Bolts Weltrekord von 9,58 Sekunden von der WM 2009 in Berlin wie auch die Qualitäten des Jamaikaner­s als Entertaine­r und Star der Leichtathl­etik-Szene scheinen außer Reichweite für den eher wortkargen Kerley.

„Usain Bolt ist wahrschein­lich ein Vorbild für jeden von uns. Er hat Großartige­s geleistet. Wir alle wollen auf dem Podest stehen und sein Level erreichen“, sagte Kerley. „Er hat etwas geschafft, das nicht viele geschafft haben: Weltrekord über 100 und 200. Ich habe das Gefühl, wir wollen alle mit ihm auf einer Stufe stehen.“

Doch auch seine eigene Geschichte taugt durchaus als Inspiratio­n, daran hat der selbstbewu­sste Athlet keine Zweifel: „Jeder ist ein Vorbild für jemand anderes, und meine Entwicklun­g hin zu einem Sponsorenv­ertrag mit Nike und den Podestplät­zen zeigt den Kids, die zu mir aufschauen: Wenn ich das schaffen kann, können sie das auch.“

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FOTO: MICHAEL KAPPELER/DPA Fingerzeig für die Welt: Fred Kerley nach seinem Sieg im 100-Meter-Finale.

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