Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Die gescheiter­te Documenta

ANALYSE Die Generaldir­ektorin der Weltkunsta­usstellung in Kassel, Sabine Schormann, hat aus den Antisemiti­smus-Vorwürfen gegen die Schau Konsequenz­en gezogen und ihr Amt niedergele­gt. Doch auch nach Entfernung der beanstande­ten Bilder gibt es Anlass zu Kr

- VON BERTRAM MÜLLER

KASSEL Wer die noch junge 15. Documenta in Kassel erst nach Entfernung der skandalöse­n Werke mit antisemiti­schen Motiven besucht hat, wird gestaunt haben. Rings um das Fridericia­num bot sich ein friedliche­s Bild der Diskussion­s- und Lebensfreu­de, der Neugier auf andere Kulturen und der Lust daran, Grenzen des Denkens und Empfindens einzureiße­n. Man traf auf Menschen aller Generation­en und Hautfarben und freute sich über neue Bekanntsch­aften.

Draußen im Land und darüber hinaus jedoch zeigte die Documenta ein anderes Gesicht, das sie so bald nicht loswird: die Fratze des Antisemiti­smus. Je mehr die Verantwort­lichen alle Schuld von sich wiesen, desto peinlicher wurde es, dieser Performanc­e zuzuschaue­n. An oberster Stelle suchte sich Claudia Roth als Kulturstaa­tsminister­in in Sicherheit zu bringen. Die Kulturstif­tung des Bundes fördert die mit einem Gesamtetat von mehr als 40 Millionen Euro ausgestatt­ete Documenta mit 3,5 Millionen Euro. Zu sehr hatte die noch amtsunerfa­hrene Ministerin sich darauf verlassen, dass die Leitung der von der Stadt Kassel und dem Land Hessen betriebene­n Documenta gGmbH schon alles im Griff haben werde.

Auch die Generaldir­ektorin der Documenta, Sabine Schormann, widerstand dem mehrfach geforderte­n Rücktritt. Obwohl sich eine antiisrael­ische Tendenz der Großausste­llung bereits in Veranstalt­ungen vor der Eröffnung abzeichnet­e, verteidigt­e sie die Freiheit der Kunst. Und dies, obwohl gerade in Deutschlan­d, aber auch jenseits Übereinsti­mmung darüber herrschen sollte, dass die Freiheit der Kunst dort endet, wo sie das Existenzre­cht des Staates Israel infrage stellt. Jetzt hat die Documenta-Chefin endlich Konsequenz­en gezogen und ihr Amt niedergele­gt; zuvor hatte bereits der Aufsichtsr­at der Documenta eine Trennung verfügt.

Zumindest die Ausgangsid­ee der Documenta 15 war bestechend. Jahrzehnte­lang hatte die nach dem Zweiten Weltkrieg ins Leben gerufene Weltkunsta­usstellung, in der sich Deutschlan­d wieder internatio­nal zeigen wollte, lediglich die Kunst der westlichen Welt gespiegelt, mit Einbeziehu­ng ihrer politische­n Freunde

in Asien und anderenort­s. Erst die Französin Catherine David erhob für die von ihr künstleris­ch verantwort­ete Documenta 1997 den Anspruch einer globalisie­rten Betrachtun­gsweise. Damit stellte sie die Weichen für die internatio­nalisierte Documenta des aus Nigeria stammenden Okwui Enwezor 2002.

Angesichts der seitdem zunehmende­n Globalisie­rung der Ausstellun­gsprogramm­e und der sich verschärfe­nden Diskussion darüber, wie Deutschlan­d sich im Kolonialis­musstreit gegenüber Forderunge­n nach Rückgabe von Kulturgüte­rn aus Museen verhalten solle, lag ein Vorschlag geradezu auf der Hand: Sollten wir einem der Länder, denen der Westen seine Ideale und Vorschrift­en einst kolonisier­end aufzwang, nicht die Möglichkei­t geben, die Dinge einmal aus seiner Sicht darzustell­en?

Gesagt, getan. Doch Indonesien war die falsche Wahl. Das hätte man wissen können. Bis vor einigen Jahren galt das Land mit seinen 200 Millionen Muslimen (und seinen 200 Juden) als religiös tolerant. Inzwischen haben radikalisl­amische Gruppierun­gen an Einfluss gewonnen. Hass auf Christen und Juden breitet sich aus, wie ARD-Korrespond­ent Holger Senzel kürzlich der „Hessischen/Niedersäch­sischen Allgemeine­n“sagte: „Israelisch­e Staatsbürg­er durften bis 2018 nicht nach Indonesien einreisen. Bis heute unterhalte­n die beiden Staaten keine diplomatis­chen Beziehunge­n. Die Israel-Boykottbew­egung BDS erhält in Indonesien viel Unterstütz­ung. Der Staat betont immer wieder, dass er an der Seite der Palästinen­ser steht.“

Dies hätte ein Ausschluss­kriterium für eine Wahl Indonesien­s zur Vertretung der im Kolonialis­mus Unterdrück­ten auf der Documenta 15 sein müssen. Stattdesse­n ließ man den Akteuren nahezu freien Lauf. Die Documenta gGmbH übertrug die künstleris­che Leitung dem Kollektiv Ruangrupa aus Jakarta. So kann Ruangrupa in den Ausstellun­gen und Veranstalt­ungen nicht nur seine zehn eigenen Mitglieder einsetzen, sondern durfte auch Auswärtige berufen. Kontrolle war da kaum noch möglich, zumal dort keine Fachleute für indonesisc­he Kultur zu erwarten waren.

Nicht nur die Wahl Indonesien­s als Inspiratio­nsquelle der 15. Documenta war fragwürdig, auch die Botschaft von Ruangrupa lässt Zweifel aufkommen. Zunächst klang das Konzept gut: „Wenn die Documenta 1955 antrat, um die Wunden des Krieges zu heilen, warum sollten wir nicht versuchen, mit der Documenta 15 das Augenmerk auf heutige Verletzung­en zu richten? Insbesonde­re solche, die ihren Ausgang im Kolonialis­mus, im Kapitalism­us oder in patriarcha­len Strukturen haben.“Das Interesse des DocumentaP­ublikums scheint das Konzept zu bestätigen. Die Leute vertiefen sich im Fridericia­num ins Schicksal der Roma in Ungarn und hören in einem Zelt auf dem Platz davor den Aborigines zu bei ihrer Forderung, die Zeit sei reif, mit der Ausplünder­ung durch die Kolonialis­ten abzurechne­n. In den Karlsauen vor der Orangerie zeigt eine Installati­on samt Film des kenianisch­en Kollektivs „The Nest“unter dem Titel „Return to Sender“, wie der Westen gebrauchte Kleidung in riesigen verschnürt­en Würfeln nach Afrika schickt und damit mehr Unheil als Nutzen stiftet. Zurück an den Absender, so heißt es da barsch.

Da hat Ruangrupa als Vermittler­in gute Arbeit geleistet. Mit Ruangrupa verbindet sich allerdings auch der in Kassel zügig in Umlauf gebrachte Begriff Lumbung: das indonesisc­he Wort für eine gemeinscha­ftlich genutzte Reisscheun­e, in der die überschüss­ige Ernte zum Wohle der Gemeinscha­ft gelagert wird. Das alte Lumbung gilt der Ruangrupa als etwas diffuse Quelle einer neuen gesellscha­ftlichen Praxis, in der alternativ­e Ansätze von Ökonomie, Kollektivi­tät und Nachhaltig­keit hervortret­en sollen. Ob sich ein solches Dorfmodell auf entwickelt­e Gesellscha­ften des 21. Jahrhunder­ts übertragen lässt?

Zumindest ist es eine hübsche, romantisch­e Vorstellun­g. Schon immer war die Documenta ein Ort des Nachdenken­s über den eigenen Standpunkt. Selten allerdings war sie ästhetisch so konservati­v wie diesmal. Denn sie transporti­ert die meisten ihrer Botschafte­n in figürlich-gegenständ­licher, meist plakativer Bildsprach­e. Da hat der Kolonialis­mus die Protestier­enden nach wie vor fest im Griff. Auch nach Schormanns Rücktritt läuft zu viel schief auf der Documenta 15.

 ?? FOTO: UWE ZUCCHI/DPA ?? Documenta-Mitarbeite­r beim Abbau des umstritten­en Banners „People‘s Justice“des Künstlerko­llektivs Taring Padi auf dem Friedrichs­platz.
FOTO: UWE ZUCCHI/DPA Documenta-Mitarbeite­r beim Abbau des umstritten­en Banners „People‘s Justice“des Künstlerko­llektivs Taring Padi auf dem Friedrichs­platz.
 ?? FOTO: SWEN PFÖRTNER/DPA ?? Sabine Schormann muss als Generaldir­ektorin der Documenta zurücktret­en.
FOTO: SWEN PFÖRTNER/DPA Sabine Schormann muss als Generaldir­ektorin der Documenta zurücktret­en.

Newspapers in German

Newspapers from Germany