Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Zeitenwende in Italien
ANALYSE Der Sturz des Technokraten Mario Draghi markiert das Ende der Vernunft im politischen System der viertgrößten Wirtschaftsmacht Europas. Es drohen Chaos und eine faschistische Regierungschefin.
Mario Draghi war noch Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), als er dringend bei Bundeskanzlerin Angela Merkel vorsprechen wollte. Die beiden damals mächtigsten Personen der Europäischen Union machten sich große Sorgen um die Wachstumsschwäche Italiens, immerhin der viertgrößten Wirtschaft Europas. Der Termin kam kurzfristig zustande, Draghi zeigte der Kanzlerin eine Grafik, nach der sein Heimatland von Mitte der 90er-Jahre bis 2014 keine nennenswerten Fortschritte mehr bei der Entwicklung der Arbeitsproduktivität erzielt hatte. Die Löhne stiegen seit fast zwei Jahrzehnten nicht mehr, die Wettbewerbsfähigkeit war bedroht, das wohlhabende Land drohte zum Armenhaus Europas zu werden.
Seither ist Italien das große Sorgenkind der EU. Politische Misswirtschaft, eine ineffiziente Verwaltung, Korruption und ein chronisch unterentwickelter Süden machten es selbst den agilsten Unternehmen der Lombardei oder den fleißigsten Facharbeitern der Emilia Romagna schwer, mit der Globalisierung noch Schritt zu halten. Als die Corona-Pandemie dann schonungslos die Schwächen des Systems offenlegte, kam die politische Elite des Landes im Februar 2021 auf die Idee, die Regierung in die Hände des international angesehensten Italieners zu legen, eben des früheren Chefs der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi.
Der konnte sich nun daran machen, eben jene Punkte umzusetzen, die er damals mit Merkel besprochen hatte: Gesundung der Staatsfinanzen, Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit, Investitionen in die technische Infrastruktur mit dem Ziel, das noch immer vorhandene ökonomische Potenzial des Landes
auszuschöpfen und Italien auf einen höheren Wachstumspfad zu hieven.
Mit Erfolg: Die Wirtschaft legte stärker zu als in allen anderen EU-Staaten, die Arbeitslosigkeit sank, und Italien wurde vom angesehenen britischen Wirtschaftsmagazin „Economist“zum Land des Jahres gewählt. Die Wohlmeinenden der Republik hofften, Draghi werde auf Lebenszeit die Geschicke Italiens bestimmen – oder zumindest bis zu den Wahlen im Mai 2023.
Daraus wird wohl nichts. Weil zuletzt nur noch 95 der 320 Senatoren der höchsten Parlamentskammer hinter dem renommierten Ökonomen standen, reichte Draghi seinen endgültigen Rücktritt ein. Die Linkspopulisten um den früheren Ministerpräsidenten Giuseppe Conte von der Protestbewegung Fünf Sterne hatten den Sturz ausgelöst. Der 85-jährige Milliardär Silvio Berlusconi (Forza Italia) und der Rechtspopulist Matteo Salvini (Lega) folgten dann. Die breite Koalition der Willigen war zerbrochen, das politische Chaos brach wieder über das Land herein.
Etliche Beobachter werten das Ende Draghis ähnlich wie unzählige Regierungskrisen zuvor als einen der üblichen Theaterdonner im Land. Doch das greift zu kurz. Italien erhält mit 192 Milliarden Euro so viel wie kein anderes Land aus dem EU-Wiederaufbaufonds zur Überwindung der Corona-Krise. Das Land ist mit 150 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (2021) das am zweithöchsten verschuldete Land der Eurozone. Damit ist Italien das derzeit vulnerabelste Land der EU. Es drohen ein Rückfall in die Stagnation der vergangenen 25 Jahre, währungspolitische Turbulenzen und politische Instabilität. Schlimmer: Die drei politischen Gruppen auf der linken wie auf der rechten Seite sympathisieren teils offen mit dem russischen Diktator Wladimir Putin. Immerhin ist Italiens Energiesektor zu 42 Prozent auf den Rohstoff Gas angewiesen (stärker als Deutschland). Und Russland liefert rund 45 Prozent des lebenswichtigen Energieträgers. Sowohl Conte als auch Salvini haben sich zuletzt gegen weitere Waffenlieferungen in die Ukraine gestellt. Es gibt viele Verlierer der Regierungskrise, aber der Gewinner ist ganz klar der Kremlherrscher.
Weiteres Unheil liegt in der Luft. Berlusconi und Salvini schmieden derzeit ein Rechtsbündnis mit der populären Giorgia Meloni, der 45-jährigen Vorsitzenden der postfaschistischen „Brüder Italiens“(Fratelli d’Italia). Melonis Partei hat in den gegenwärtigen Umfragen mit 22 Prozent die höchsten Zustimmungswerte.
Es ist also eine Zeitenwende, die die Populisten in Italiens wankelmütiger Politkaste eingeleitet haben. Sie könnte das System, am Ende sogar die Demokratie im Lande erschüttern. Denn zerrüttete Finanzen, die durch eine befürchtete Zahlungsunfähigkeit Italiens entstehen könnten, haben in der Vergangenheit schon häufig zur Wahl von Rechtsextremen geführt. Verliert die noch immer leistungsfähige Industrie aber den Mut, investieren die Unternehmen weniger, versiegen die Steuereinnahmen weiter und kommt die dringend notwendige Erneuerung der Infrastruktur zu einem Stillstand. Stattdessen toben Verteilungskämpfe, mögliche Unruhen nicht ausgeschlossen.
In der langen Phase der Nachkriegszeit haben es die Besonnenen der politischen Elite Italiens immer wieder geschafft, das Steuer herumzureißen. Das war während der Ölkrise und des Terrors in den 70er-Jahren so, auch nach dem Ausstieg Italiens aus dem Europäischen Währungssystem 1992 und dem Ende der einst allmächtigen Democrazia Cristiana Anfang der 90er-Jahre. Es folgte die chaotische Zeit des BungaBunga-Populisten Berlusconi, später der Fünf-Sterne-Bewegung, bis Draghi übernahm. Jetzt ist das System offenbar am Ende, und es gibt niemanden, der einen Rettungsplan anbieten könnte.
Die Populisten könnten das System, am Ende sogar die Demokratie erschüttern