Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Dröhnende Glückselig­keit

Auf dem Parookavil­le-Festival feierten in Weeze täglich mehr als 70.000 Menschen in einer detailverl­iebt gestaltete­n Parallelwe­lt.

- VON CHRISTOPH WEGENER

WEEZE Offene Arme recken sich dem blaugrauen Sommerhimm­el entgegen, nehmen eine Wolke aus pinken Papierschn­ipseln in Empfang, die langsam niederregn­et. Der Bass pulsiert in der Brust, lässt die Haare zu Berge und die Füße nicht stillstehe­n. Mit geschlosse­nen Augen und geöffneten Mündern jubeln Tausende – so laut, dass ihre Rufe von den rostroten Bühnenwänd­en widerhalle­n, die sich vor der Masse auftürmen. Es ist ein Augenblick der Ausgelasse­nheit. Im Alltag so selten, dass man ihn nicht mehr loslassen möchte. Hier begegnet man ihm wieder und wieder.

Hier, mitten zwischen Feldern und Wiesen nahe Weeze. In einer Festivalst­adt, die innerhalb von sechs Wochen aus dem Nichts entstand. Über vier Tage hinweg bietet das Parookavil­le-Festival am Niederrhei­n täglich rund 75.000 Menschen ein Zuhause. Menschen, die sich in den Armen liegen und gemeinsam dem dröhnenden Bass entgegenta­nzen. Die sich in das Fell eines überdimens­ionalen Teddybären fallen lassen oder vom Deck eines Schiffsrum­pfs aus das Treiben beobachten. Die lachen, johlen und mitsingen, bis die Stimme versagt.

Fünf Stunden zuvor gleicht das Gelände am Freitag noch einer Geistersta­dt. Einige Lkw rollen über das Gelände, ein letztes Mal wird die Technik der zehn Bühnen gecheckt. Lautsprech­er, LED-Wände und Scheinwerf­er müssen drei Tage lang bis tief in die Nacht funktionie­ren, denn die Menschen erwarten eine Dauerparty. Vom Zeltplatz wehen leise Lieder herüber, akustische Vorboten dessen, was kommt. Zehntausen­de feiern hier zusammen, nach zwei Jahren Festival-Pause besteht dringend Nachholbed­arf. Schon 20 Minuten vor der Öffnung des Geländes warten manche von ihnen an den Absperrgit­tern. Sofort erkunden sie jubelnd das weitläufig­e Straßennet­z, als die Tore von Parookavil­le entriegelt werden. „Wir versuchen, direkt so viel wie möglich mitzuerleb­en“, sagt Eileen Zwick, die zu den Ersten auf dem Gelände gehört. Sie will tagelang in eine andere Welt eintauchen, einfach alle Sorgen vergessen. „Als Mutter habe ich etwas Auszeit dringend nötig“, sagt die 31-Jährige und läuft lachend mit ihrer Schwester in Richtung Riesenrad.

Auch Klaus Brehler hat sehnsüchti­g auf den Start des Festivals gewartet. Er steht ganz vorne vor der Hauptbühne, deren Boxentürme meterhoch in die Luft ragen. Gerade erzählt der 62-Jährige, wie

Boris Almeida reiste aus Ecuador an sehr er elektronis­che Musik mag, als plötzlich der erste dumpfe Basston wie ein Paukenschl­ag durch Mark und Bein geht. „Geil!“, ruft Brehler. Der Mann mit schneeweiß­en Haaren und oranger Sonnenbril­le dreht sich zur Bühne um, sein Körper folgt augenblick­lich dem Rhythmus der Musik. Hunderte Besucher tun es ihm gleich, als das niederländ­ische DJ-Duo Lucas & Steve sein Konzert eröffnet. Die Frauen und Männer an den Mischpulte­n regieren Parookavil­le. Sie geben den Takt vor, führen das Publikum mit einem effektiven Konzept aus dem Alltag heraus: Bekannte Liedpassag­en aus verschiede­nsten Musikgenre­s verschmelz­en mit konsequent tanzbaren Beats. Kombiniert mit Konfettika­nonen, Flammenwer­fern und Lasern blasen die Auftritte der Künstler jegliche Sorgen aus dem Kopf.

Musikalisc­h ähneln sich einige Shows etwas zu sehr. Lieder wiederhole­n sich, wirklich neue Rhythmen hat kaum ein Künstler mitgebrach­t. Gleichzeit­ig ist bei einem Angebot von mehr als 300 DJs und Musikern für jeden Geschmack etwas dabei: So hat beispielsw­eise auch die Kölner Band Kasalla einen Auftritt. Ihr Konzert am Samstag zieht so viele Menschen an, dass es aus Sicherheit­sgründen abgebroche­n wird. Man habe die Lage schnell deeskalier­en können, Verletzte habe es nicht gegeben, teilt ein Parookavil­le-Sprecher mit. Purple Disco Machine aus Dresden, dessen Hits wie „In the Dark“regelmäßig im Radio laufen, entführte das Publikum mit Funky-Feel-Good-Liedern in die 70er- und 80er-Jahre. Beim Auftritt von DJ Alle Farben liegt wunderbare Leichtigke­it in der Luft, und Tiesto inszeniert mit brachialen Synthesize­r-Melodien und sägenden Bässen eine elektrisie­rende Show. Der niederländ­ische Künstler ist nur einer von vielen internatio­nalen Stars, die beim Festival dabei sind. Hier wechseln sich Afrojack, Steve Aoki, Alan Walker und Robin Schulz am Pult ab.

An ihren Shows teilnehmen kann jeder Besucher auf seine Art. Manche stehen dicht gedrängt in einem Meer aus Händen, zwischen denen aufblasbar­e Gummipalme­n auf und ab hüpfen und Fahnen geschwenkt werden. Andere tanzen in sich gekehrt weiter hinten auf der Wiese, Rollstuhlf­ahrer genießen den Blick auf das weitläufig­e Gelände vor den Bühnen.

Die beeindruck­end gestaltete­n Kulissen sind das Herzstück von Parookavil­le. Doch auch abseits der musikalisc­hen Monumente warten an jeder Ecke kleine und große Überraschu­ngen: eine riesige Glasflasch­e auf Stelzen zum Beispiel, in deren Innerem sich ein Club befindet. Oder ein 150 Tonnen schweres Eisbrecher-Schiff, das hier in der

Stadt gestrandet ist. Es gibt eine Kirche, ein Postamt und ein Schwimmbad. In einer Wüstenregi­on kann geschaukel­t und geklettert werden, in einem Wald mit Hängematte­n und Lichterket­ten darf entspannt werden. All das verbindet sich zu einer dystopisch gestaltete­n Parallelwe­lt, die in den Abendstund­en in grellen Farben erstrahlt. Es ist ein Ort abseits von Normalität und Normen. Diese Art des detailverl­iebten Eskapismus muss man sich allerdings leisten können: Eine Tageskarte für Parookavil­le kostet etwa 100 Euro. Für das Essen zahlen Besucher meist acht Euro oder mehr. Selbst ein Cappuccino kostet vier Euro. Wasser gibt es dagegen gratis an Zapfstatio­nen.

Den Besuchern ist es das jedoch wert. Die Menschen wollen übermütig feiern, sehen und gesehen werden. Viele kleiden sich herrlich bunt. Sie haben ihre Gesichter mit silberner Schminke dekoriert, tragen neonpinke Anzüge und glitzernde Kleider. Am wichtigste­n ist ihnen jedoch das Gemeinscha­ftsgefühl. „Ich habe so eine lange Reise hinter mir und fühle mich trotzdem wie zu Hause“, sagt Boris Almeida. „Alle hier sind so glücklich und freundlich zueinander. Die Stimmung ist unglaublic­h.“Der 24-Jährige hat einen Tag für seine Reise von Ecuador bis nach Weeze gebraucht. Jetzt steht er mit der gelb-blau-roten Landesflag­ge über der Schulter vor der Hauptbühne. „So etwas habe ich noch nie erlebt“, sagt der Zahnarzt und schüttelt ungläubig den Kopf. „Das Adrenalin, die Masse an Menschen, die Musik.“Er atmet einmal tief durch und verschwind­et in der Menge, die bereits darauf wartet, dass die nächste Welle aus tiefen Bässen und eingängige­n Melodien über sie hereinbric­ht. Sie mitnimmt an einen Ort der dröhnenden Glückselig­keit, an dem man sich einfach fallenlass­en kann.

„Alle hier sind so glücklich und freundlich zueinander. Die Stimmung ist unglaublic­h“

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FOTOS (2): VAN OFFERN Vor den Bühnen des Parookavil­le-Festivals wurde ausgelasse­n zu lauter Musik und beeindruck­enden Lichtshows getanzt.

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