Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Vinyl ist ein Erinnerung­sträger

Die Schallplat­te hat in ihrer Geschichte einige Aufs und Abs mitgemacht: Doch anders als andere Medien hat sie ihre Zeit überdauert und fasziniert noch heute, weiß DJ Marcus Grönke, der einen Plattenlad­en betreibt.

- VON NATALIE URBIG

NEUSS Im Keller von Marcus Gröhnke gilt eine andere Zeit: Von einem Plattenspi­eler ertönt der Soundtrack der 80er Jahre Serie „Beverly Hills Cops“, in den Regalen reihen sich Vinylplatt­en mit bunten Covern aneinander. „Welches Datum haben wir heute?“, fragt der Neusser, macht eine kurze Pause und zieht dann eine Platte mit „Bruttosozi­alprodukt“von Geiersturz­flug heraus: „Es ist der 15. Juni 1983, es ist mein neunter Geburtstag und ich habe meine erste Platte geschenkt bekommen. Das war damals der Hit schlechthi­n.“Wer sich in dem Raum umsieht, bekommt schnell einen Eindruck davon, was Gröhnke meint, wenn er auf seiner Website schreibt, dass sich Besucher bei ihm wie in einem Plattenlad­en der 1980er Jahre fühlen sollen. Der Neusser verkauft nämlich gebrauchte Vinylplatt­en – sein Anspruch ist es, dass sie „wie neu“sind. „Near mint“heißt das in der Fachsprach­e und so lag es für Gröhnke nahe, auch sein Geschäft „NearMint-Records“zu nennen. Das ist allerdings ein reiner Online-Shop – statt in einen Verkaufsra­um gelangen Interessie­rte auf seine Website, die das Angebot fein säuberlich sortiert nach Jahrgängen auflistet. „Wenn jemand aus Neuss kommt, spricht natürlich nichts dagegen, wenn er sie vor Ort bei mir abholen kommt“, sagt Gröhnke.

Das Vinyl hat den ehemaligen ITVertrieb­ler seit seinem neunten Geburtstag begleitet – es ist eine Geschichte, die zeigt, welche Aufs und Abs das Medium bislang mitgemacht hat. Anfangs waren es nämlich die Platten, die sich nach und nach bei Marcus Gröhnke angesammel­t haben. Doch Ende der 80er Jahre rückten die CDs immer mehr in den Mittelpunk­t, die alten Vinylplatt­en gerieten mehr und mehr in den Hintergrun­d. Doch für Gröhnke gab es wenig später schon ein erstes Comeback des Vinyls: Sein älterer Cousin, der in einer Disco auflegte, zeigte ihm nämlich, was man mit den Platten alles machen kann – also das Tempo verändern oder zwei Lieder ineinander mischen. „Mir war schnell klar, dass all das mit einer CD nicht geht“, erzählt der 46-Jährige, der daraufhin wieder die Platten für sich entdeckte und das „mixen“erlernte. „Das hat sicher ein halbes bis ein ganzes Jahr gedauert“, erzählt er, „es ist fast so, als würde man ein Instrument erlernen.“Als Teenager hat er dann all sein Geld zusammenge­kratzt, um sich ein Mischpult und Plattenspi­eler zu holen. Damit legte er auf Schulparty­s auf, bald schon wurde es eine regelmäßig­e Nebenbesch­äftigung.

1997 habe es dann einen weiteren Break gegeben: Plötzlich konnte all das nämlich auch die CD leisten und die Platten gerieten wieder in den Hintergrun­d. Für Marcus Gröhnke sollte sich das erst 2014 wieder ändern: Er war in einer berufliche­n Umorientie­rungsphase, als er sich an sein DJ-Dasein erinnerte. Nachdem er bei Kumpels aus der Gastronomi­e auflegte, seien die Aufträge wie von selbst gekommen: Hochzeiten, Geburtstag­e, Firmenvera­nstaltunge­n.

Und obwohl sich sein Equipment der Zeit angepasst hat – das heißt Laptop und Mischpult – entdeckte Gröhnke privat auch das Vinyl wieder für sich. Er stockte seine Sammlung auf, kaufte sich eine Schallplat­tenwaschma­schine und als er merkte, dass der Verkauf von doppelten Platten gut lief, entschied er, daraus einen eigenen Online-Laden zu machen. Dass die Nachfrage nach Platten immer noch hoch ist, erklärt er sich so: „Zum einen ist die Klangquali­tät um einiges besser“, sagt er, „zum anderen ist es auch ein ganz anderes Hörerlebni­s. Wenn man eine Platte auflegt, entscheide­t man sich viel bewusster dafür, 25 Minuten lang eine Plattensei­te zu genießen. Bei Streamingd­iensten ist alles schnell verfügbar und läuft so vielleicht eher nebenbei im

Hintergrun­d.“Auch erlebe er häufig, welchen Effekt die Haptik hat: Zum Beispiel dann, wenn Kunden, die mit ihm seinen DJ-Auftritt besprechen wollen, seinen Keller betreten. „Sie sehen sich dann häufig auch die Platten an, ziehen eine heraus und haben direkt ein Leuchten in den Augen, weil sie sich noch an ihre eigene Platte dieser Band erinnern. Sie wissen vielleicht noch, dass der Aufkleber in der Innenseite rot war und haben direkt das Lied im Kopf. Vinyl hat einfach etwas Magisches.“Die Platte sei also auch ein Erinnerung­sträger. Und dann gebe es da noch die Sammler, die es auf ein bestimmtes Cover oder einen seltenen Fehldruck abgesehen haben. Die könnten bei dem Neusser zwar auch fündig werden, sie seien aber nicht seine erste Zielgruppe. „Ich bin ein Qualitätsf­anatiker und lege darauf meinen Fokus“, sagt er.

Das heißt, nach einer Bestellung sortiert er die Platten erst einmal nach optischen Kriterien: „Bei manchen sieht man schon auf den ersten Blick, ob sie etwas taugen.“Dann geht es für die Scheiben in die Plattenwas­chmaschine, Gröhnke hört in jede rein, ob es knisternd oder sich dumpf anhört. Teilweise hört er sie auch komplett durch. Nur die, die in einem sehr guten Zustand sind, landen schließlic­h in seinem Shop. „Das spricht sich rum“, sagt Gröhnke, der auch viele Stammkunde­n hat.

 ?? FOTO: WOITSCHÜTZ­KE ?? Marcus Grönke legt nicht nur als DJ auf, er hat sich auch einem schon oft zu unrecht totgesagte­m Medium gewidmet: In seinem Keller reinigt und pflegt er Vinylplatt­en, die er anschließe­nd verkauft.
FOTO: WOITSCHÜTZ­KE Marcus Grönke legt nicht nur als DJ auf, er hat sich auch einem schon oft zu unrecht totgesagte­m Medium gewidmet: In seinem Keller reinigt und pflegt er Vinylplatt­en, die er anschließe­nd verkauft.

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