Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

„Die Entwicklun­gen werden uns überrollen“

Der Wetterexpe­rte sagt, unsere Gesellscha­ft habe noch nicht erfasst, wo wir bei der Erderwärmu­ng stehen. Er wirbt für radikale Veränderun­gen und hält das Ende nahezu des gesamten Individual­verkehrs für notwendig, um das 1,5-Grad-Ziel noch zu erreichen.

- JANA WOLF FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

Herr Plöger, in den vergangene­n Jahren erleben wir immer heißere Sommer. Bedeutet das im Umkehrschl­uss, das werden die kühlsten Sommer für den Rest unseres Lebens gewesen sein?

PLÖGER So direkt lässt sich das nicht sagen. Dennoch erleben wir aktuell die Folgen des Klimawande­ls, so wie sie uns die Wissenscha­ft schon vor 30, 40 Jahren genau skizziert hat. Jetzt zeigt es sich in der Realität. Dadurch sehen wir zum einen, dass die Klimawisse­nschaften eine präzise Arbeit machen, zum anderen, dass wir mit all unserem Handeln im ernsthafte­n Verzug sind. Die Hitzeentwi­cklung steigt stetig weiter an.

Also wird die warme Jahreszeit doch immer heißer werden? PLÖGER Wenn die globale Mitteltemp­eratur ansteigt, werden die extremen Ausschläge überpropor­tional zunehmen. Wir haben jetzt wiederholt Temperatur­en von 40 Grad in Deutschlan­d gesehen. Auf den Britischen Inseln wurde erstmals die 40-Grad-Marke gerissen, mehr als 50 Grad in Pakistan über mehrere Wochen, 34 Grad selbst am Polarkreis. Solche Werte gab es früher nie. Ich glaube, dass unsere Gesellscha­ft noch nicht richtig kapiert hat, wo wir wirklich stehen. Die Entwicklun­gen werden uns noch überrollen. Die Physik interessie­rt sich in keiner Weise für unsere Belange, und drum sind wir gut beraten, Klima und Natur nicht einfach zu ignorieren. Das sind nämlich unsere Lebensgrun­dlagen, und so müssen wir uns vor den Auswirkung­en atmosphäri­scher Veränderun­gen noch viel besser schützen. Es braucht echte, tiefgreife­nde Veränderun­gen.

Wie weit ist die globale Erwärmung schon fortgeschr­itten?

PLÖGER Wir sprechen aktuell von 1,2 Grad Erwärmung gegenüber dem vorindustr­iellen Zeitalter. Auf dem Globus befindet sich sehr viel Wasser, das eine hohe spezifisch­e Wärmekapaz­ität hat, also sehr viel Wärme aufnehmen kann. Dadurch wird der Temperatur­anstieg in der Atmosphäre gepuffert. Wenn man nur die Landmassen betrachtet, sind wir jetzt schon bei einer Erwärmung von zwei Grad in Europa, in den Alpen sogar schon über zwei Grad, und in der Arktis, wo sich das Eis zurückzieh­t, schon bei drei Grad. Die Forschung sagt uns: Wenn wir keinen echten Klimaschut­z bis Ende des Jahrhunder­ts schaffen, werden zehnjährig­e Dürren mitten in Europa gewöhnlich. Jetzt ist eine fünfjährig­e Dürre mit kurzer Unterbrech­ung schon außergewöh­nlich.

Also ist das 1,5-Grad-Ziel nicht mehr zu halten?

PLÖGER Die Weltorgani­sation für Meteorolog­ie geht inzwischen davon aus, dass mit einer Wahrschein­lichkeit von 50 Prozent schon 2026 die 1,5-Grad-Erwärmung überschrit­ten sein wird. Deswegen sage ich ganz klar: Dieses Ziel werden wir nicht mehr packen. Punkt. Denn die Radikalitä­t der Schritte, die für 1,5 Grad jetzt sofort notwendig wäre, würde vermutlich keine Gesellscha­ft weltweit mitgehen. Nur ein Beispiel: Wir müssten dazu etwa nahezu jeglichen Individual­verkehr sofort aufgeben. Ich fürchte, das lässt sich kaum durchsetze­n.

Woher nehmen Sie die Hoffnung und Motivation, weiter für mehr Klimaschut­z zu werben? PLÖGER Es gibt doch keine andere Möglichkei­t. Von der Apokalypse auszugehen und jegliche Hoffnung aufzugeben, führt ja nicht dazu, dass wir wesentlich besser und schlauer handeln. Den Optimismus muss man hochhalten. Und die physikalis­chen Möglichkei­ten sind ja gegeben. Unter zwei Grad wäre wirklich machbar, wenn wir konsequent handeln.

Aktuell passiert eine ganze Menge, nehmen wir nur die neuen Gesetzespa­kete zum Ausbau der erneuerbar­en Energien. PLÖGER Es passiert mehr als in den Vorgängerr­egierungen, das stimmt. Die Entwicklun­g geht in die richtige Richtung. Deutschlan­d hat aber auch einen sehr großen Nachholbed­arf. Wir liegen weltweit auf Platz sechs bei den Emissionen, von 194 Ländern emittieren 188 weniger als wir. Wir dürfen nicht nur den Anspruch haben, besser zu werden, sondern haben mit dieser Position auch eine ganz große Verpflicht­ung, Vorreiter zu sein. Sonst wären all unsere Worte, dass wir die Welt „enkelfähig“machen wollen, reine Makulatur.

Sehen Sie die Gefahr, dass der russische Krieg den Klimaschut­z noch weiter blockiert?

PLÖGER Der Krieg ist furchtbar. Aber meine Hoffnung besteht zumindest darin, dass der Schock, der uns durch die Glieder gefahren ist, als wir uns unserer selbst gemachten Abhängigke­iten – verblüffen­d spät übrigens – bewusst wurden, vielleicht dazu führt, dass wir endlich die Erneuerbar­en so ausbauen, wie wir seit Jahren betonen, es tun zu wollen. Es hilft einfach nicht, Realitäten zu ignorieren und sich die Welt schönzured­en. Das haben wir auch mit Herrn Putin gemacht. Schon auf der Sicherheit­skonferenz 2007 hat er seine Weltsicht dargelegt. Genauso, wie er es dann auch verfolgt hat: in Georgien, Südossetie­n, Abchasien, Syrien, dann die Annexion der Krim. Welche Konsequenz­en wurden gezogen? Quasi keine! Erst jetzt, durch den Ukraine-Krieg geschieht das.

Was folgt daraus für den Klimaschut­z?

PLÖGER Immer wenn wir vermeintli­ch Zeit haben, machen wir viel zu wenig oder zerreden unsere Ziele. Wir können doch nicht sagen, der Ausbau der erneuerbar­en Energien hat oberste Priorität, und tun politisch dann alles, um das zu verhindern. Etwa mit Ideen wie Nord Stream 2, wo uns das billige russische Gas unter dem Vorwand der „Brückentec­hnologie“einfach näher war als alle Klimavernu­nft. Oder mit Abstandsre­geln bei der Windkraft wie in Bayern, die den weiteren Ausbau nahezu verunmögli­cht. A sagen, B machen – und sich dann wundern, dass es nicht klappt. Dass wir jetzt neue Gaslieferq­uellen suchen oder über Atomkraft diskutiere­n müssen, ist nur Ausdruck davon, dass wir jahrelang völlig falsch gehandelt haben. Es ist einfach zu spät, erst bei den größten Schocks wie einem Krieg oder Wetterextr­emen aufzuwache­n und aktiv zu werden.

Die demokratis­chen Mühlen mahlen oft langsam. Das ist die Realität, in der wir leben. Lässt sich das dem Klimaschut­z in Einklang bringen?

PLÖGER Nein, das ist nicht die Realität, in der wir leben. Wir schaffen diese Verhältnis­se, wir gestalten unsere Gesellscha­ft. Die Realität ist die Physik. Die Realität ist der Klimawande­l und die Umwelt, die jetzt verrücktsp­ielt. Ob uns das gefällt oder nicht, ist maximal uninteress­ant für die Natur. Wir sind in einer Opfer-Täter-Doppelroll­e – genau das verstehen wir oft nicht. Wenn die Mühlen also langsam mahlen, dann ist das falsch. Wenn es fünf bis zehn Jahre dauert, ein Windrad aufzustell­en, dann ist das falsch. Dann müssen wir diese Verhältnis­se ändern.

Dennoch gibt es in der Demokratie immer die Notwendigk­eit, politische Kompromiss­e zu finden… PLÖGER Ich halte die Demokratie für die beste Staatsform, die es auf dieser Welt gibt. Aber die Demokratie muss lernen, dass Behäbigkei­t und Langsamkei­t nicht ihr Kernbestan­dteil sein darf. Wenn ich nach Russland oder China schaue, will ich nicht tauschen.

Derzeit häufen sich auch die Waldbrände in Europa. Dadurch werden auch große Mengen an CO2 freigesetz­t. Heizt das den Klimawande­l weiter an?

PLÖGER In der Physik bezeichnet man das als positive Rückkoppel­ung. Daran ist nichts positiv, es geht um eine gleichgeri­chtete Entwicklun­g. Es wird zusätzlich CO2 freigesetz­t, die Atmosphäre erwärmt sich weiter. Die menschenge­machte Zerstörung kann zu Kipppunkte­n führen. Wenn der Amazonas zu drei Vierteln zerstört wird, hat er nicht mehr die Fähigkeit, den eigenen Wasserkrei­slauf aufrechtzu­erhalten und als Regenwald fortzubest­ehen. Solche Kipppunkte drohen an immer mehr Stellen, etwa durch das Auftauen des Permafrost­bodens oder auch Waldbrände.

Wie geht ein Meteorolog­e persönlich mit der Hitze um?

PLÖGER Ich gebe Zeitungsin­terviews auf einem schattigen Balkon, trinke viel und versuche, nicht in der Mittagshit­ze wie ein Weltmeiste­r zu joggen.

 ?? FOTO: CHRISTIAN ZECHA/SWR/DPA ?? Sven Plöger steht auf der Trolltunga („Trollzunge“) mit Blick auf den See Ringedalsv­atnet in Norwegen.
FOTO: CHRISTIAN ZECHA/SWR/DPA Sven Plöger steht auf der Trolltunga („Trollzunge“) mit Blick auf den See Ringedalsv­atnet in Norwegen.
 ?? FOTO: REVIERFOTO/DPA ??
FOTO: REVIERFOTO/DPA

Newspapers in German

Newspapers from Germany