Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Bei Pragmatike­rn in guten Händen

- VON ANTJE HÖNING

Manchmal kann eine Werkshalle im Ruhrgebiet eine Bühne sein: In dem Drama um russisches Gas inszeniert­e Kanzler Olaf Scholz dort den Akt Offensive. Er konterte Putins Behauptung, wegen der fehlenden Turbine müsse Nord Stream 1 die Lieferunge­n drosseln, indem er der Welt das tonnenschw­ere Stück zeigte und klar benannte, warum es noch immer nicht in Russland ist: weil Papiere von Gazprom fehlen. Dass sein Parteifreu­nd Gerhard Schröder genau an dem Tag eine neue Vorstellun­g als Putins Hofnarr gab, indem er Siemens die Schuld gab, brachte den Kanzler nicht aus der Ruhe. Bei der Bewältigun­g der Energiekri­se gehen er und sein Vize Robert Habeck mit einem vor Monaten noch unvorstell­baren Pragmatism­us ans Werk. Das ist eine gute Nachricht.

Der Krieg gegen die Ukraine stellt vieles infrage. Die Renaissanc­e der Kohle, der Boom beim Flüssiggas – geschenkt. Aber dass Habeck jetzt seiner Partei, die im Kampf gegen die Atomkraft entstanden ist, womöglich eine kleine Laufzeit-Verlängeru­ng schmackhaf­t machen muss, ist erstaunlic­h. Das grüne Drehbuch dazu ist gefunden: Weil Bayern den Netz- und ÖkostromAu­sbau über Jahre blockierte, träfe eine Stromkrise das Bundesland nun besonders. Doch zur Ehrlichkei­t gehört auch, dass die Energiepol­itik für alle Parteien kein Ruhmesblat­t ist: Nicht nur die Regierung Schröder, sondern auch die vielen Merkel-Kabinette haben die Abhängigke­it von Russland hingenomme­n. Atomkraft, Kohle, jetzt russisches Gas – immer wieder steigen wir aus einer Energiefor­m aus, ohne eine realistisc­he Alternativ­e zu haben. Dass Deutschlan­d bei der Atomkraft nun zum dritten Mal einen Salto machen könnte, zeigt die Kurzsichti­gkeit von Politik, verschärft das Endlager-Problem, wird richtig teuer – und könnte doch pragmatisc­h nötig sein. So ernüchtern­d können Dramen enden, so ernüchtern­d ist Realpoliti­k.

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