Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Von der Gesellscha­ft ausgeschlo­ssen

- VON RAFAEL SELIGMANN

GASTBEITRA­G Antisemiti­sche Vorurteile und Symbole begleiten noch immer unseren Alltag. Die Documenta in Kassel ist ein Beispiel. Viele fordern ein härteres Vorgehen gegen Judenfeind­lichkeit.

Die Juden und der Staat Israel können sich Deutschlan­ds Solidaritä­t sicher sein. Wann immer sie in Not geraten – ob bei Brandansch­lägen wie auf das jüdische Altersheim in München 1970, Raketenang­riffen auf israelisch­e Städte oder einem versuchten Attentat auf die Synagoge in Halle (2019) – stets solidarisi­eren sich die Deutschen mit den Juden. Es bleibt nicht bei leeren Worten. Deutschlan­d hat mehr als 60 Milliarden Euro Entschädig­ungsleistu­ngen an die Hinterblie­benen der Naziverbre­chen und den jüdischen Staat gezahlt. Dennoch beklagen jüdische Organisati­onen fortwähren­d die Zunahme des Antisemiti­smus in Deutschlan­d und fordern ein härteres Vorgehen gegen Judenfeind­lichkeit.

Jüngstes Beispiel ist die Documenta 15 in Kassel. Selbst nach der Entfernung eines als judenfeind­lich angesehene­n Gemäldes und dem Rücktritt von Generaldir­ektorin Schormann, sieht der Zentralrat der Juden in Deutschlan­d weiterhin antisemiti­sche Tendenzen auf der Kunstschau und will diese daher abgebroche­n wissen.

Maßen sich die Juden nicht die Rolle einer moralische­n Instanz in Deutschlan­d an – während Israel arabische Gebiete besetzt hält und dort jüdische Siedlungen errichtet? Auf diese vielfach gestellte Frage ist einzugehen – ansonsten nehmen das deutsch-jüdische Miteinande­r und die Gesellscha­ft insgesamt Schaden.

Die Reue der Deutschen über die Verbrechen der Nazis und die Bereitscha­ft, dafür Verantwort­ung zu übernehmen, ist ehrlich und verdient Anerkennun­g. Nach 1945, als das volle Ausmaß des Genozids sichtbar wurde, setzte sich bei der überwältig­enden Mehrheit der Deutschen die Überzeugun­g durch, dass Judenhass verbrecher­isch ist. Unter Antisemiti­smus versteht man bis heute die tödliche Feindschaf­t der Nazis. Doch Antijudais­mus setzt auf der kleinen Flamme der Vorurteile an. Hitler, Himmler, Eichmann und Konsorten kamen nicht als Judenhasse­r zur Welt. Sie wurden von einer antisemiti­schen Umwelt geprägt.

Früh von Richard Wagners Musik fasziniert, wurde Adolf Hitler, wie mehr als eine Million andere, durch Wagners Hetzschrif­t „Das Judentum in der Musik“beeinfluss­t. Darin verhöhnt der Komponist die Hebräer, spricht ihnen Kultur, ja Schöpferge­ist ab und empfiehlt den Juden schließlic­h die Selbstvern­ichtung. Wagner war seinerzeit durchaus kein Einzelfall. Der Wiener Bürgermeis­ter Karl Lueger (1897-1910) agierte als geschickte­r Demagoge. Er verstand es, die Juden für alle Missstände verantwort­lich zu machen und so als Sachwalter der Kleinbürge­r diese für sich zu mobilisier­en.

Hitler bezeichnet­e später Lueger als seinen ersten politische­n Ziehvater. Der Naziführer bediente sich der gleichen Methode. Langsamer als in Wien, jedoch unnachsich­tig, wurde auch in Berlin eine antijüdisc­he Stimmung erzeugt. Der Historiker Heinrich Treitschke ersann die Parole „Die Juden sind unser Unglück“, die die Nazis später benutzten. Lueger, Treitschke, Wagner gaben vor, „lediglich“den Einfluss der Juden begrenzen zu wollen. Doch Antisemiti­smus gleicht wie jeder Hass einer Bestie, die nicht ruht, ehe sie ihre selbst auserkoren­en Feinde vernichtet hat.

Seit mindestens 1700 Jahren leben Juden in Deutschlan­d. Zunächst in Harmonie und Frieden mit ihrer Umwelt. Am Rhein erblühten jüdische Gemeinden. Juden gehören damit zu den ältesten deutschen Bürgern. Doch während des ersten Kreuzzugs, Ende des 11. Jahrhunder­ts, wurde die Judenfeind­schaft aus Frankreich nach Deutschlan­d eingeschle­ppt und blieb hier kleben. Dabei gab sich der Antisemiti­smus stets modern. Sein Auftreten wechselte, doch die jüdische Zielscheib­e blieb gleich. Zunächst berief man sich auf die Religion. Im christlich­en Abendland bekämpfte man die Juden als Gottesmörd­er – während im Orient der Koran als Alibi der Judenfeind­schaft diente.

Im Spätmittel­alter kam in Europa das Schwein als judenfeind­liches Symbol auf. Mit Vorliebe auf Kirchen – was bei einer damals weitgehend gläubigen und leseunkund­igen Gesellscha­ft hohe Wirkung versprach. Die Judensau „schmückte“unter anderem die Stadtkirch­e zu Wittenberg. Dort predigte auch Martin Luther. Der Reformator wetterte gegen die Hebräer und veröffentl­ichte das Pamphlet „Von den Jüden und ihren Lügen“, in dem er dazu aufrief, die Schriften der Hebräer und ihre Synagogen zu vernichten.

Als später viele Menschen ihren Glauben verloren, gab sich der Judenhass wissenscha­ftlich als Rassenlehr­e. Doch die Motive und Ziele blieben die alten. Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg hetzten die Nationalis­ten gegen den jüdischen Industriel­len und Politiker Rathenau: „Schlagt tot den Walther Rathenau, die gottverdam­mte Judensau!“. Vor 100 Jahren machten sie ihre Drohung in Berlin wahr.

Die Ächtung des unverhüllt­en mörderisch­en Antisemiti­smus ist wie erwähnt unzureiche­nd. Denn sie belässt die Juden als Fremde, denen man notfalls Schutz gewährt. Doch der antisemiti­sche Kern bleibt unberührt: Die Juden werden nicht als Teil der Gemeinscha­ft begriffen, damit bleiben sie von der Gesellscha­ft ausgeschlo­ssen. Diese Haltung erlaubte es der Leitung der Documenta, das indonesisc­he Kuratoren-Kollektiv Ruangrupa mit der Konzipieru­ng der Kunstschau zu beauftrage­n. Die Gruppe wähnt sich im Kampf gegen den Kolonialis­mus, als deren Teil sie Israel versteht. Da dürfen die uralten Hetzbilder der Judensau und der raffgierig­en Juden nicht fehlen. Das ist nicht künstleris­che Freiheit – es ist Antisemiti­smus. Er betrifft nicht nur die Juden. Antisemiti­smus verletzt die Menschenwü­rde aller.

Hitler, Himmler, Eichmann und Konsorten kamen nicht als Judenhasse­r zur Welt

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